Kapitel II

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Ich sitze allein in meinem Zimmer und starre die Wand an. Die Sachen sind gepackt und wurden bereits abgeholt. Sie sollen vor mir in die andere Welt geschickt werden, es scheint wohl einfacher zu sein, irgendwelche Gegenstände zu schicken; Lebewesen sind schwieriger. Es ist nicht viel, was ich mitnehmen kann, schließlich werde ich dort ein Mensch sein. Das Wichtigste, was ich mitnehmen werde, ist ein Bild von mir und Carreau, als wir noch Kinder waren. Ich sollte versuchen etwas zu schlafen, der Tag morgen wird bestimmt anstrengend.

Ich seufze genervt bei dem Gedanken an den morgigen Tag, schließlich will ich die Hölle immer noch nicht so wirklich verlassen. Aber Carreau hat es geschafft mich zu überzeugen es zumindest zu versuchen - manchmal hasse ich ihn schon dafür, dass er mich so gut kennt. Ich verdanke ihm viel, und der Königsfamilie sogar noch mehr. Bevor ich vor 12 Jahren in den Palast kam, war ich nichts weiter, als ein einfaches Straßenkind. Ich kannte meine Eltern nicht, ich weiß selbst heute nicht, ob sie mich ausgesetzt haben oder ob sie überhaupt noch leben. Aus der Zeit vor meinem Leben auf der Straße drängen sich immer wieder Bilder in mein Gedächtnis, verstörende Bilder von brennenden Gebäuden und wütenden Dämonen, die mich jagen. Ich versuche nicht häufig daran zu denken, weil es mich immer sehr mitnimmt. Einen kleinen Vorteil gab es aber, ich war nie allein, es gab mehrere wie mich, die kein Obdach hatten, keine Familie. Wir waren meistens in Gruppen unterwegs, weil es sicherer ist, als alleine zu leben. Es gab viele, die die Zeit nicht überlebten, auch ich hätte jeden Tag sterben können und es hätte keinen interessiert. Das war die wirkliche Hölle. Eigentlich hatte ich schon mit meinem Leben abgeschlossen, bis ich auf diesen Mann traf...

Eines Tages, ich hatte gerade etwas zu essen gestohlen, tauchte plötzlich ein großer Mann in einem schwarzen Anzug vor mir auf. Eigentlich war ich sehr vorsichtig und bemerkte es früh, wenn sich jemand näherte, ein gutes Gespür ist extrem wichtig auf der Straße, aber ihn sah ich erst, als er direkt vor mir stand. In diesem Moment dachte ich schon, jetzt sei alles vorbei. Aber er sagte einfach nur mit einer ruhigen Stimme: „Mein Junge, warum stiehlst du?" Ich war total perplex und brachte mit zitternder Stimme raus: „Weil ich Hunger habe!" Er lachte einfach nur laut und sah sich um. „Dies ist aber kein Ort für ein kleines Kind, wie dich", sagte er und schaute wieder zu mir runter. Immer noch verängstigt nickte ich nur leicht und sah auf den Boden. Er beugte sich zu mir runter und fragte: „Wie heißt du denn?" Ich verstehe bis heute nicht, warum er sich genau für mich so interessierte, vielleicht war es ja auch nur Zufall? „Ma... Marax", stammelte ich ängstlich, nicht wissend, was er von mir wollte. Daraufhin kniete er sich vor mich und wuschelte mir mit seiner Hand - damals ist sie mir riesig vorgekommen - durch meine Haare. Ich meine, daraufhin ein leichtes Lächeln bei ihm gesehen zu haben, aber es war wohl doch nur Einbildung. Er stellte sich wieder aufrecht hin und sagte mit fester Stimme: „Ich heiße Azarel und würde dich gerne zu mir einladen". Ich weiß bis heute nicht, warum ich damals mit diesem merkwürdigen Mann mitgegangen bin, welches Kind würde schon freiwillig mit einem älteren Mann mitgehen, den er nicht mal kannte? Aber ich konnte in diesem Moment nicht anders, irgendwas an ihm wirkte vertrauenswürdig.

Ich bemerkte erst, wer er eigentlich war, als wir am Palast ankamen. Ich schaute ihn mit großen Augen an und er lachte wieder nur laut. Ich brachte kein Wort heraus, was wollte der Vater unseres Königs von einem Straßenkind wie mir? Selbst die Dämonen, die auf der Straße leben, kennen die königliche Familie. Er übergab mich mit den Worten „Kümmern Sie sich um den jungen Herr" in die Hände eines seiner Untergebenen. Er schien nicht gerade zufrieden mit der Aufgabe sich um mich kümmern zu müssen. Er gab mir neue Kleidung und brachte mich in ein großes Zimmer, in dem die erste richtige Mahlzeit meines Lebens wartete. Nachdem ich fertig war, betrat Azarel den Raum, hinter ihm eine kleine Gestalt. „Ich möchte dir jemanden vorstellen Marax", sagte er mit seiner gewohnt lauten Stimme, „Dies hier ist Carreau, er wird dir etwas Gesellschaft leisten, während du hier bist." Obwohl er etwa drei Jahre älter war, als ich war er der Einzige im Raum, der noch schüchterner war, als ich. Er klammerte sich ängstlich an Azarels Bein. „F-Freut mich dich kennenzulernen", stammelte er ohne mich dabei anzuschauen.

War das der Plan des Mannes? Wollte er einfach nur einen Spielgefährten für diesen Jungen haben, damit er sich nicht um ihn zu kümmern braucht? Aber mich interessierte das nicht wirklich, schließlich gaben sie mir Essen und Obdach. Auch wenn ich schon satt war, zischte ich nur: „Von meinem Essen bekommst du nichts ab!" Er wurde ganz rot und versteckte sich weiter hinter Azarel, während der nur laut lachte. „Ihr werdet sicher noch die besten Freunde werden", sagte er und ließ den kleinen Jungen und mich im Zimmer zurück. Zu diesem Zeitpunkt habe ich ihm das nicht geglaubt, aber mit der Zeit tauten wir beide auf und freundeten uns wirklich langsam an. Erst einige Zeit später habe ich erfahren, dass er der Sohn einer angesehenen Adelsfamilie war. Es schockierte mich schon, als Carreau mir seine Herkunft verriet, schließlich war ich doch nur ein einfaches Straßenkind und er war blaublütig. Dennoch funktionierte es zwischen uns sehr gut, sahen wir doch in dem anderen eine Art Bruder, denn wir uns wohl beide wünschten. Da Carreau seine Fähigkeit schon früh gut unter Kontrolle hatte, haben wir damit gerne die Angestellten zu Tode erschreckt, wobei auch das ein oder andere Teeservice zu Bruch gegangen ist. Wir hatten wirklich sehr viel Spaß zusammen, auch wenn wir wohl die Einzigen waren, die das lustig fanden. Keine Woche verging, in der wir nicht versucht hatten, Azarel irgendwie zu erschrecken, aber er bemerkte uns immer und fing nur an, laut zu lachen.

Heute frage ich mich, ob er es eigentlich bereut hat, dass er mich aufgenommen hat, schließlich verging kein Tag, an dem wir keinen Ärger von einem der Angestellten bekamen. „Ich schulde ihnen wohl etwas", sagte ich zu mir selbst bei diesen schönen Erinnerungen, „schließlich verdanke ich ihnen mein Leben." Naja, dass ist wohl noch ein Grund, Maos Auftrag zu erfüllen - auch wenn es wohl der einzige Grund sein dürfte, warum ich morgen wirklich gehen werde. Ich starre auf mein Spiegelbild: meine Haare sind so zerzaust, dass man mein Muttermal in der Form eines kleinen 'M's sieht. Tse, genau deswegen habe ich einen langen Pony. Schnell streiche ich meine Haare über die Stirn. Aus irgendeinem Grund sehe ich dieses Muttermal nicht gern, es ist wie ein Instinkt.
Ich schaue auf die Uhr: 1:42 Uhr. Doch schon so spät? Ich sollte wirklich versuchen, noch etwas zu schlafen, bevor es morgen - oder eher heute losgeht. Ich werde die Hölle echt vermissen, verdammt, ich hab darauf immer noch keine Lust.

Im Auftrag des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt