Kapitel XXIV

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Ich renne so schnell ich kann zum Richmond Park. Auch wenn ich nicht weiß, was passiert ist, ich habe ein sehr schlechtes Gefühl. Auf dem Weg remple ich immer wieder Menschen an und stolpere fast über jede Kleinigkeit. Natürlich sollte sie mir eigentlich egal sein, aber sie ist es nicht, warum auch immer. Auch wenn meine Lungen schon brennen und meine Beine mir längst sagen, dass sie nicht mehr können, renne ich immer weiter. Ich bin so aufgeregt, dass ich all das nicht mehr spüre. Ich merke nicht einmal, wie kalt es eigentlich geworden ist. Mir ist alles egal, ich muss Sera beschützen. Endlich am Eingang des Parks angekommen, sehe ich mich um. Wo könnte sie nur sein. Irgendwo muss es doch eine Spur von ihr geben.
Ich überlege... und renne einfach los. Zu dem Platz, an dem wir uns das erste Mal getroffen haben - wo sie mich gefunden hat. Und tatsächlich! Nicht weit von der Stelle entfernt liegt sie im Gras. Ich stürme ohne nachzudenken auf sie zu und falle vor ihr auf die Knie. Sie atmet zwar noch, aber sie öffnet ihre Augen einfach nicht.
"Sera, bitte wach auf" keuche ich immer noch völlig außer Atem. Aber sie will ihre Augen einfach nicht öffnen. Ob sie wie ich in einem Traum feststeckt? Ist dieses Glühwürmchen daran schuld? Ich packe sie an den Schultern und schüttle sie leicht "Sera, bitte wach auf! Tu mir das nicht an, lass mich bitte nicht alleine!" Ich schreie immer wieder ihren Namen, aber sie will einfach nicht aufwachen. Plötzlich spüre ich, wie jemand hinter mir auftaucht. Ich bin eigentlich sehr schlecht im Aufspüren von Präsenzen, aber aus irgendeinem Grund spüre ich seine ganz deutlich. Ich drehe mich schnell um. Und tatsächlich - knapp fünf Meter hinter mir steht ein Mann mit einem Hut, den er weit ins Gesicht gezogen hat und einem langen, schwarzen Mantel.
"Bitte helfen sie mir, ich brauche Hilfe! Dieses Mädchen... es geht ihr micht gut", brülle ich ihm entgegen, ohne ihn wirklich anzuschauen. Aber es passiert... nichts. Ohne irgendeine Regung bleibt er stehen und starrt mich an. Ich drehe mich um und schaue ihn nun direkt an, seine Augen kann ich trotzdem nicht erkennen. "Ich flehe sie an, sie müssen mir helfen!"
"Ich hatte schon fast gedacht, du kommst nicht mehr, Marax."
"Bitte hel-" Hat er mich gerade Marax genannt?
"Ja, habe ich!" Ich starre den Mann ungläubig an.
"Woher... wer sind sie?"
"Wenn ich mich kurz vorstellen darf, ich bin Michael. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen." Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln, der Art Lächeln, bei dem man sofort das weite suchen sollte. "Ich hoffe, dir ist bewusst, dass deine Taten für meinen Herren nicht verborgen geblieben sind? Er ist schließlich nicht umsonst allmächtig." Er lacht leicht. Mein Herr? Und dazu auch noch dieser Name. Er muss ein Engel sein. Ist er der Engel aus meinen Träumen, hat er Sera das angetan? Wieder lacht er, dieses Mal lauter.

"Kann es sein, dass du wirklich nicht weißt, was hier vor sich geht?" Wieder starre ich ihn mit ungläubigen Blick an.
"Hat man dir noch nicht mal erklärt, dass Engel Gedanken lesen können? Ich hätte erwartet, so etwas bringt man einem Abgesandten der Hölle bei, bevor man ihn auf eine solche Mission schickt! Maos Entscheidungen waren auch schon mal besser", er beendet seine Aussage mit leichtem Kopfschütteln.
Was mache ich jetzt nur? Ich muss Sera irgendwie beschützen. Ich darf keine Angst vor einem Namen heben. Außerdem ist er allein, also stehen meine Chancen noch recht gut. So Marax, jetzt gilt es - aufgeben gibt es nicht! Ich richte mich auf und schaue den Mann an.
"Du bist also ein Engel? Einer dieser geflügelten Ratten von dem da oben?" Er hebt seinen Hut etwas an und schaut mich überrascht an.
"Ach mein junger Marax, wir wollen doch nicht ausfallend werden, zumal du auch noch bereitwillig in unsere Falle getappt bist", er lächelt mich freundlich, aber doch überlegen an.
"Falle? Du bist allein und wirkst nicht besonders kräftig. Wie willst du mi-" In diesem Moment wird es plötzlich hell um diesen Engel, der ohne Mütze eher an einen älteren Mann erinnert, der seine besten Jahre schon längst hinter sich hat. Als ich meine Augen wieder öffne, stehen plötzlich Dutzende von Menschen hinter ihm. Ich schaue erschrocken durch die Menge. Einige kommen mir bekannt vor - sei es aus der Fußgängerzone oder dem Restaurant... Ich traue meinen Augen nicht, als ich ihn sehe! Selbst dieser inkompetente Kellner steht hinter dem älteren Mann. Ist er ein Engel? Das würde zu mindest erklären, warum er der wohl schlechteste Kellner der Welt ist. Aber wenn das alles Engel sind, dann... "Das dir das jetzt erst auffällt? Wir haben jeden deiner Schritte überwacht. Du warst unter ständiger Beobachtung. Und du hast das nicht einmal wirklich bemerkt", sagt er im Ton eines Lehrers, der seinem Schüler gerade von einem schlimmen Fehler abbringen will. 
"Ich hätte wirklich gedacht, du spürst ihre Präsenz", er kratzt sich nachdenklich am Hinterkopf, "Aber du hast nicht mal im Traum daran gedacht, dass wir dich beobachten. Das kam uns wirklich sehr gelegen" Ich bringe kein Wort hervor. War ich wirklich so dumm?
"Selbst nach deinem, nicht ganz so zufälligen, Unfall auf deiner Herreise hast du keinen Verdacht geschöpft. Im Gegenteil! Du hast dich genau so verhalten, wie wir es wollten!" Er schüttelt mit dem Kopf, "Du solltest dir vielleicht einen anderen Job suchen, Marax." Dieses Mal sieht es echt schlecht für mich aus. Aber einfach aufgeben ist immer noch keine Option - Sera hat mit all dem nichts zu tun. Ich muss sie irgendwie hier raus bekommen.
"H-Hey Matti, was ist den los?", fragt mich eine schwache Stimme hinter mir.
"Sera, du bist wach!?" Verschlafen schaut sie mich an, während sie sich aufrichtet.
"Ich hab hier... ein kleines Problem. Aber keine Sorge, ich beschütze dich!" Ich stelle mich zwischen sie und die Gruppe von Engeln. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich das machen soll, muss mir einfach irgendwas einfallen. Wenigstens stehen die Engel immer noch nur da. "Beschützen? Mich? Nein!" Plötzlich spüre ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken und höre ein wütendes: "Schöne Grüße vom Glühwürmchen." Mit weit aufgerissenen Augen drehe ich mich um. Hinter mir sehe ich... Sera mit einem blutverschmierten Messer. Ich schaffe es nicht mehr, mich auf den Beinen zu halten und sacke in mich zusammen.
Als ich Michael sehe, erkenne ich tatsächlich etwas wie Schrecken in seinem Gesicht. "Seraphina, du weißt, dass du jetzt Probleme bekommen wirst, oder?", fragt er bitter.
"Pah, dass war es mir Wert. Dieser Vollidiot hat nichts besseres verdient, und weiter geholfen hat er uns auch nicht. Ihm Gefühle vorzugaukeln war komplette Zeitverschwendung. Wir hätten es wirklich so machen sollen, wie ich es von Anfang an wollte. Aber nein, Mord zwischen übermenschlichen Wesen wird ja nicht gern gesehen.", meckert Sera, während sie an mir vorbei geht.
"Ach, eine Sache noch", sagt sie, bevor sie sich zu mir runter beugt, "Du bist ein Stück Dreck, nicht mal Wert, von mir getötet zu werden." Sie drückt mir noch mal in die Wunde. Ich schreie schmerzerfüllt, was sie nur zu freuen scheint. Ich kann nicht mal mehr antworten, ich liege nur da und schaue ihr hinterher, wie sie zu Michael geht
"Wir verschwinden von hier", ruft Sera mit kräftiger Stimme.
"Gott wird nicht gerade begeistert davon sein, wie das hier ablief", wiederholt der ältere Mann noch einmal.
"Wer hat dich eigentlich nach deiner Meinung gefragt, Michael? Lass das mal meine Sorge sein!"
"Ach Kleines, du bist so herzlos, wie eh und je, aber du solltest doch ein wenig mehr Respekt vor-"
"Halt die Luft an Michael, ich sagte, wir verschwinden!"
"Und... was sollen wir mit dem jungen Dämon machen?", Michael deutet auf mich.
"Der stirbt hier einsam und verlassen! Wir sollten uns an so was nicht die Hände schmutzig machen."
"Für einen Engel bist du echt kalt... sollten wir nicht warmherzig sein?" Vielleicht liegt es nur an mir, aber ich höre Trauer in seiner Stimme.
"Jaja, halt den Mund. Ich erledige hier nur meinen Job, da ist kein Platz für so was wie Mitgefühl."
Ich bekomme noch mit, wie die Schar an Engeln genauso plötzlich verschwindet, wie sie erschienen ist. Ich drehe mich auf den Rücken und starre in den grauen Himmel. Mittlerweile spüre ich die Schmerzen nicht mal mehr. Ich merke, wie ich immer weiter das Bewusstsein verliere. Sanft landet eine einzelne Schneeflocke auf meinem Gesicht.
"Das ist also Schnee... fühlt sich komisch an..." Ich lächle müde, dann wird alles schwarz.

Im Auftrag des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt