Kapitel XXVII

60 6 0
                                    

"Du hast also keine Eltern, was?", fragt mich Elizabeth schüchtern. Ich muss leider zugeben, dass mir ihre neue Art weit aus mehr Angst macht, als die alte, sadistische Art.
Ich seufze genervt. Warum interessiert sie das jetzt überhaupt? Wollte sie mich nicht noch vor einigen Stunden tot sehen?
"Ich möchte darüber nicht reden... es war schlimm, aber es ist vergangen, okay?"
Sie läuft ein Stück vor mich, bleibt stehen und hält mich so auf. "Ach komm, mir kannst du es doch erzählen!"
"Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Warum bist du jetzt so anders zu mir?", frage ich, ohne eine ernsthafte Antwort von ihr zu erwarten.
"I-ich", stottert sie, "w-weiß gar nicht, was du meinst!", brüllt sie, bevor sie sich schnell umdreht und weiter geht. Sie gibt mir keine Chance, ihr ins Gesicht zu schauen. Habe ich etwa was falsch gemacht? Ich kratze mich am Hinterkopf - ich werde Frauen wohl nie verstehen.
Leise knirscht die dünne Schneedecke unter unseren Füßen, als wir die Straße überqueren. Es schneit immer noch ganz leicht und es herrscht eine gespenstische Stille. Ich öffne immer wieder den Mund, um irgendetwas zu sagen, aber bringe trotzdem keinen Ton hervor. Elizabeth läuft vor mir. Sie schaut immer noch auf den Boden und gibt mir keine Chance, ihr Gesicht zu sehen. Ich seufze ganz leise. "Ich bin ohne Eltern aufgewachsen, ohne irgendjemanden, der mich beschützt hätte", fange ich an zu erzählen. "Ich erinnere mich an nur sehr wenig aus meiner Zeit, bevor ich auf der Straße lebte. Und das, woran ich mich erinnern kann, würde ich lieber wieder vergessen." Ich seufze innerlich. Eigentlich rede ich darüber nicht gerne, aber bei ihr gefällt es mir wesentlich mehr, als gar nichts zu sagen. "Das Erste, woran ich mich so wirklich erinnern kann, ist, dass ich davon gelaufen bin. Ich weiß nicht, warum ich gerannt bin. Ich weiß nur, dass es extrem nach Rauch gerochen hat und meine Lunge wie Feuer brannte. Der Rest ist genauso, wie bei jedem anderen Kind aus der Gosse. Tod und Hunger waren mein ständiger Begleiter", ich stoppe. Ich weiß nicht, wie ich den Rest erzählen soll, schließlich erzähle ich Sachen aus meiner Vergangenheit nur sehr ungern. Nur der Teufel weiß wohl, warum ich es ausgerechnet ihr erzähle. Noch in dem Moment, als meine Gedanken um meine Vergangenheit kreisen, bleibt Elizabeth plötzlich stehen und dreht sich zu mir um. Der Blick, den ich in diesem Moment zu sehen bekomme, bricht mir fast das Herz. Sie schaut mich mit großen, traurigen Augen an, sagt aber kein Wort. Sie kommt auf mich zu gestolpert und umarmt mich ohne Vorwarnung. In der Dunkelheit, wo nur die Laternen ein schwaches Licht werfen, und es ganz leicht schneit, ist es fast so, als würde die Zeit in dem Moment stehen bleiben.
"Ähm...", fange ich kleinlaut an, "du kannst mich dann auch wieder loslassen." Langsam löst sie ihren Griff und schaut mich mit einem traurigen Lächeln an. "Ich wusste ja nicht, dass du so etwas durchmachen musstest."
"Ach, dass ist schon lange vorbei." Ich tue einfach so, als wäre das alles keine große Sache für mich, auch wenn es sich echt gut anfühlt, dass es ihr so nahe geht. Ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen, was sie natürlich sofort bemerkt und sich selbst ein Lächeln nicht verkneifen kann. "W-wir sollten dann gehen", stottere ich nervös, als ich mich an ihr vorbei drängle, "bevor uns noch jemand bemerkt." Ich hoffe nur, sie hat nicht bemerkt, wie ich rot geworden bin. Das süße Kichern, was ich hinter mir höre, lässt mich aber an meiner Hoffnung zweifeln.
Der Schnee glitzert im Licht der Laternen, als wir endlich in die Straße einbiegen und das alte Backsteingemäuer auftaucht, dass ich in den letzten Monaten mehr oder weniger mein Heim nennen dürfte.
Leise, still und heimlich öffne ich die Tür. Es ist schon recht spät, und ich will niemanden wecken. Ohne ein hörbares Geräusch zu machen, schließe ich die Tür hinter mir und drehe mich erleichtert um- "Matti!!! Wo warst du die ganze Zeit?", höre ich hinter mir jemanden brüllen. Kate steht mit Tränen in den Augen in der Tür und stürmt auf mich zu. Ich versuche noch, einen Schritt zurück zu machen - verdammt, da ist die Tür "Nein nein nein", rufe ich fast schon panisch, aber da hat sich mich auch schon halb umgerannt.
Schmerzerfüllt zucke ich noch zusammen, als ihre Umarmung auf meinen Verband trifft. Sie lässt mich schlagartig wieder los und schaut mich sorgenvoll an, während sie Elizabeth völlig ignoriert, die die ganze Situation wohl ziemlich zu amüsieren scheint. "W-Was ist denn los Matti, bist du verletzt?"
"Ach, es ist nur ein kleiner Kratzer. Nicht der Rede Wert", sage ich mit einem falschen Lächeln, während ich innerlich vor Schmerzen schreie. Kate schaut besorgt auf meinen Bauch. "Wo warst du denn die letzten Tage? Wir haben uns echte Sorgen um dich gemacht. Eric und Jack sind schon den ganzen Tag unterwegs und suchen nach dir!" Gerade, als ich antworten will, rammt mir jemand die Tür, an der ich immer noch lehne, direkt und ohne Rücksicht in meinen Rücken. Ich taumle nach vorne und schaffe es gerade so, nicht nach vorne umzukippen. Ich muss mich beherrschen, nicht gleich jemanden anzubrüllen, als ich mich wütend umdrehe. Jack steckt seinen Kopf durch die Tür, vermutlich um zu überprüfen, was er gerade getroffen hat. Er schaut mich überrascht an, sagt dann aber in einem völlig monotonen Tonfall: "Jo, alles okay bei dir?" Während ich schon am überlegen bin, ihn durch einen gezielten Tritt gegen die nur einen Spalt offen stehende Tür einen Kopf kürzer zu machen, kommt Elizabeth schon nicht mehr aus dem Grinsen raus. Sie mag es wohl echt, wenn ich Schmerzen habe.
"Sag ihm, er hat es verdient", höre ich Erics, zugegeben erschöpfte, Stimme. "Schließlich hatten wir nur wegen ihm die letzten Tage keine ruhige Minute mehr!" Man, was für eine unglaublich freundliche Begrüßung. "Da hast du aber eine echt nette Gastfamilie erwischt", sagt Elizabeth immer noch grinsend.
"Und du bist?", fragt Jack mit einem Gesichtsausdruck, der eindeutige Hintergedanken zeigt.
"Leg dich besser nicht mit ihr an", ächze ich, "sie ist Maos Tochter." Stille herrscht, mit der Antwort hat wohl keiner gerechnet.
"Ah Matti", meldet sich Kate wieder zu Wort, "Eric hat dir was zu berichten, nicht wahr mein Schatz?" Sie ruft laut in Richtung Tür, aber auf der anderen Seite herrscht erst eine nachdenkliche Stille, bis ein nicht sehr überzeugendes "Ja... Schatz" ertönt. Das 'warum sind Frauen auf der Erde denen in der Hölle nur so ähnlich' behält er lieber für sich.
"Mao hat sich gemeldet, du sollst zurückrufen", höre ich ihn in einem ziemlich gleichgültigen Ton sagen. "M-Mao?", rufe ich verwundert.

Im Auftrag des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt