Kapitel VIII

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Ich werde unsanft von lautem Gebrüll geweckt. Ist das bei Menschen normal, dass man sich früh am Morgen so laut anschreit? Ich drehe mich um und versuche, weiter zu schlafen. "Menschen sind komische Geschöpfe", denke ich, bevor ich meine Augen wieder schließe.
"Wo warst du denn in der letzten Nacht?", ruft eine weibliche Stimme gereizt. "Ich wüsste nicht, was euch das angeht! Ich bin 16 verdammt noch mal, ich brauche auch mal Freiheiten!", schreit eine männliche Stimme. "Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast, hast du uns zu erzählen, wo du hin gehst. Vor allem, wenn es später wird!" Brüllt eine weitere männliche Stimme, die aber um einiges tiefer ist, als die vorherige. Aus dem Kontext schließe ich, dass der junge Mensch... Jack hieß er, sich wohl nicht an die Gesetze seiner Erzeuger gehalten hat. Ich glaube, mit schlafen wird das bei der Lautstärke nichts mehr. Ich will gerade aufstehen, als mir noch mehr Gebrüll entgegen kommt. "Dass ist nicht das erste Mal, dass du ewig weg bleibst, ohne uns bescheid zu geben!", schreit die Frauenstimme. "Du hast dich an unsere Regeln zu halten, Jack!", brüllt die Männerstimme lautstark. Ich schaue aus dem Zimmer und sehe eine Gestalt an mir vorbei rennen und höre noch eine Tür zu schlagen. "Komm sofort wieder runter, wir sind noch nicht fertig", schallt es von unten.
Ist das deren Ernst? Brüllen sie sich echt wegen so etwas an? Ich ziehe mich an, und während die drei noch weiter rumbrüllen, schleiche ich mich aus dem Haus. Mir ist es echt egal, wer von ihnen Recht hat, dass interessiert mich kein Stück! Ich will gerade einfach nur weg. Ich mag es einfach nicht, wenn sich Leute gegenseitig anbrüllen. Ich laufe eine ganze Weile durch die Straßen, ich kenne mich hier nicht aus, aber gerade ist alles besser, als das Haus. Das bestätigt nur, was ich schon die ganze Zeit über wusste: ich gehöre hier nicht her! Ich will zurück in die Hölle. Ich vermisse alle sehr - vor allem Carreau. Ich muss mich echt beherrschen, nicht loszuheulen. Verdammt, warum geht mir - in diesem Moment drängen sich Kinder an mir vorbei.
"Du bist"
"Nein du bist dran"
"Gar nicht wahr, du bist"
Sie rennen in einen nahen Park. Da ich kein wirkliches Ziel habe, gehe ich ihnen gedankenverloren hinterher. Wie unbesorgt diese Kinder doch sind, sie haben keine Ahnung, wie viel Glück sie haben, behütet aufzuwachsen. Ich gehe zu einem kleinen See und hocke mich an sein Ufer. Unter der Oberfläche tanzen kleine Fische miteinander. Im Hintergrund hört man das Geschrei spielender Kinder. "Gib mir sofort mein Spielzeugauto zurück, oder ich sage es Mama", ruft das eine Kind. "Du bist eine blöde Petze, lass mich doch auch damit spielen!", ruft das andere Kind. Selbst die Kinder streiten sich in dieser Welt schon. Es ist wohl wirklich normal. Ich setze mich auf eine Bank und denke an meine eigene Kindheit. Ich versuche dabei nur an die glücklichen Momente im Palast zu denken - nicht an die Zeit auf der Straße. Ich starre deprimiert zu Boden, immer wieder drängen sich mir Bilder in den Kopf - von wütenden Dämonen, von Feuer und von schmerzerfüllten Schreien. Eine Träne rollt mir über's Gesicht.
"Diese Kinder wissen gar nicht, wie gut sie es haben", höre ich eine kratzige Stimme weiter neben mir sagen. Ich wische mir kurz die Träne aus dem Gesicht und schaue neben mich. Dort sitzt ein älterer Mann, beide Hände vor sich auf einen dunkelbraunen Krückstock gestützt. Er hat dünnes, weißes Haar; seine Augen sind nur leicht geöffnet und fallen bei seinen buschigen Augenbrauen kaum auf, außerdem ziert ein etwas ungepflegter Bart sein Gesicht. Ich war so sehr in Selbstmitleid versunken, dass ich ihn gar nicht bemerkt habe. Ich schaue ihn nur an, gebe ihm aber keine Antwort. Er wirkt irgendwie seltsam, aber auf eine vertraute Art und Weise. "Sie wachsen auf, ohne sich um irgendwas Sorgen machen zu müssen", erzählt er im Plauderton. Sein dünner Mund formt ein fröhliches Lächeln. "Es ist gut, in Frieden aufzuwachsen. Ich und viele, die ich kenne, konnten das nicht." Sein Monolog wird durch kratziges Husten unterbrochen. Ich frage mich, ob es ihn überhaupt interessiert, ob ich ihm zuhöre. Ich nicke, um ihm zu zeigen, dass ich seiner Geschichte folge. "Ich habe meine Eltern im Krieg verloren, und war selber häufig dem Tod näher, als dem Leben." Ich erschaudere, als mir die Parallelen auffallen. "Dies lief so lange, bis mich ein nettes, älteres Ehepaar von der Straße auf ihren Bauernhof nahm." Er unterbricht sich und schaut mich an. Er erinnert mich stark an meine Vergangenheit. Ich hätte nie erwartet, dass auch Menschen so etwas durch machen müssen.
Ihm scheint mein trauriges Gesicht aufzufallen, als er sagt: "Du scheinst zu verstehen, wovon ich rede. Hör zu, nicht die, die dich geboren haben, sind deine Eltern, sondern diejenigen, die sich mit Herz um dich kümmern." Er versucht zu lachen, was aber nur in Husten endet. Nachdem er sich wieder gefangen hat, fragt er: "Was machst du hier überhaupt? Stress mit der Familie?" Ich zucke mit den Schultern. "Sie waren am Streiten und wurden laut, darauf hatte ich einfach keinen Bock."
"Ach Quatsch, nur, weil sich Leute Streiten, heißt das nicht, dass sie sich nicht mögen. Ich habe mich häufig mit meiner Frau gestritten... und trotzdem haben wir uns geliebt." Ich höre ihm schon nicht mehr zu, was hat er jetzt gesagt? Na egal, es war bestimmt nicht so wichtig. Er redet noch eine Weile irgendwelches Zeug, bis er plötzlich mit seinem Krückstock auf den Boden stampft und so laut es ihm seine Stimme erlaubt: "Du solltest jetzt nach Hause zu den Menschen, die sich um dich kümmern, gehen" krächzt. 'Nach Hause', 'Menschen, die sich um mich kümmern', diese Worte klingen mir noch eine Weile in den Ohren, als ich mich langsam von der Bank erhebe, dem alten Mann noch ein mal zu lächle und langsam zurück gehe. Wieder höre ich die Kinder schreien - aber dieses Mal spielen sie miteinander, als sei nichts gewesen. 'Zu Hause' - wo das wohl für mich ist? In der Hölle? Oder hier? Ich weiß es nicht. Ich torkele nachdenklich zurück zu dem alten Backsteinhaus. Als ich mich leise rein schleiche, sehe ich, wie Eric, Kate und sogar Jack zusammen auf der Coutsch sitzen und... lachen! Genauso schnell, wie Menschen streiten, verzeihen sie wohl auch wieder, was?
Ich gehe leise an der offenen Tür vorbei, ich möchte sie nicht in ihrem glückliche-Familie-Moment stören. Ich könnte zwar schwören, Eric hat mich gesehen, aber er hat nichts gesagt, dass ist auch besser so. Ich - ich brauche keine Familie, so etwas wird überbewertet. Ich geh in mein Zimmer und schmeiße mich aufs Bett. Warum bin ich plötzlich nur so traurig?

Im Auftrag des TeufelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt