2. Antarktis, Ludwig der 14. oder Asiens Agrarwirtschaft

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Nun stehe ich schon seit zehn Minuten vor dieser Buchhandlung und schaff es einfach nicht hineinzugehen. Die viel zu schweren Bücher in der Stofftasche werden von Sekunde zu Sekunde noch schwerer und die Schlaufen der Stofftasche schneiden unangenehm in die nackte Haut meiner rechten Schulter.

Ich müsste doch eigentlich nur diese Tür aufmachen, an den Tresen gehen, meine alten Schulbücher hier lassen und nebenbei noch etwas Geld verdienen.
Was ist daran bitte schwer?

Nichts, gar nichts. Kinderleicht, genau das wäre es.

Aber ich krieg es nicht hin. Stattdessen stehe ich vor dem Schaufenster und tue so, als würde ich die ausgestellten Bücher interessant finden. Da gibt es zum Beispiel eine, schon etwas zerfledderte, Ausgabe von Stephen Kings Der Friedhof der Kuscheltiere, einen Gedichtband von einem mir unbekannten Dichter, das Buch wirkt aber sehr düster, eine uralte Auflage von Anna Karenina oder ein neu erschienenes Buch mit einem Cover auf den ein Mann zu sehen ist der, wahrscheinlich seinen großen Liebe gerade einen Antrag macht. Ansonsten sind noch einige Sachbücher über Themen wie die Antarktis, Ludwig den 14. oder Asiens Agrarwirtschaft ausgestellt. Völlig durcheinander gewürfelt. Auf den ersten Blick vielleicht schön, auf den zweiten einfach nur chaotisch und auf den dritten erkennt man aber plötzlich, dass es seinen eigenen ganz besonderen Charme.

Das Schaufenster ist nicht gründlich oder wahrscheinlich eher seit langem nicht mehr, geputzt worden, denn bei genauerem Hinsehen kann man den Staubfilm auf den Büchern und in den Ecken der Auslage erkennen. Der grüne Stoff, der unter den Büchern liegt ist von der Sonne gebleicht. Also vielleicht doch keinen besonderen Scharm, die Auslage interessiert einfach keinen.

Im Inneren kann ich einen älteren Mann mit krausem weißem Haar beim Einsortieren der Neuzugänge beobachten. Ansonsten ist der Laden leer, nur eine Dame, wahrscheinlich ende vierzig mit schlecht gefärbten roten Haaren schaut sich in dem etwas heruntergekommen Laden, der doch seinen etwas eigenen Zauber hat, um.
Und ich stehe immer noch hier. Unfähig diese Tür zu öffnen und einfach hineinzugehen.
Reiß dich zusammen, das sind doch nur Bücher, weiße ich mich zu Recht und zwinge meine Füße auf die Tür zu gehen. Wenn ich sie öffne, erklingt bestimmt ein Glöckchen, das einen neuen Kunden ankündigt.

Es ist wirklich eine schöne schmiedeeiserne Tür mit einem gut erhaltenen Holzrahmen. Eine alte, abgegriffene, verschnörkelte Türklinke macht das Bild perfekt.
Ich werfe einen Blick auf die Schulbücher in meiner Hand. Ganz oben ist das Chemiebuch, wie ich Chemie doch gehasst habe. Diese ganzen Formeln und Rechnungen, die man nie im Leben brauchen wird.

Dann kommt Englisch, Geografie, Mathematik, Latein und darunter befindet sich das Geschichte Buch, mein absolutes Lieblingsfach. Ich mag die Vergangenheit. Sie fühlt sich so sicher und zuverlässig an. Es ist alles schon passiert, man kann nichts mehr daran ändern und erst recht nichts falsch machen. Man sieht die Fehler der anderen und ist erleichtert bei den Gedanken, dass man selbst keine Schuld an all dem hat.

Diese Bücher haben mich jetzt drei Jahre lang begleitet und jetzt kann ich nicht loslassen. Das ist doch total bescheuert. Das sind doch nur Bücher, Schulbücher. Bücher, die ich mal kaufen musste und ich weiß noch genau wie ich damals Problem hatte das Geld für sie aufzutreiben, denn Jenny und Tom weigerten sich partout ihr Geld für so unnützes Zeug, wie sie es nannten, auszugeben. So musste ich mir irgendwie das Geld zusammensparen, um sie zu kaufen.
Ich drücke die Türklinke hinunter und trete ein. Wie erwartet ertönt das Klingeln und der wunderbare Duft von alten verstaubten Büchern umhüllt mich. Ob wunderbar oder eher muffig bleibt jedem selbst überlassen. Staubpartikel fliegen durch die Luft, nur um sich dann auf dem nächst besten Regal oder Buch abzusetzen.

Der alte Mann kommt, vom Klingeln schon von meiner Ankunft informiert, auf mich zu. „Junges Fräulein, kann ich ihnen behilflich sein?" Mein Blick wandert von meinen Büchern zu dem Alten, der mich erwartungsvoll mit seinen Goldzähnen anlächelt, und wieder zu meinen Büchern. Muss ich sie wirklich verkaufen?
Bevor ich meine Meinung wieder ändern kann, sage ich schnell. „Nein, tut mir leid", drehe mich um und flüchte aus der Buchhandlung. Die Tür fällt hinter mir zu.
Ich behalte sie.

Es ist mir egal was Jenny sagen wird, wenn sie ihre 30Euro, die ich für die Bücher wahrscheinlich bekommen hätte, nicht kriegt.

Es ist mir egal. Dieser Streit ist es mir wert. So schlimm kann das doch nicht werden. Ich will doch einfach nur eine kleine Erinnerung an diese unbeschwerten Jahre. Ja vielleicht habe ich auch einfach nur Angst vor der Zukunft, aber das ist doch berechtigt, das hat doch jeder irgendwie. Vielleicht geht jeder anders damit um, das hier ist mein Weg. Vielleicht nicht der Beste aber Irgendwas muss ich ja tun.

Ich lasse die Tasche von meiner Schulter gleiten, nur um sie auf die andere zu heben und mache mich auf den Weg. Zurück, zurück in die kleine Wohnung. Ich wüsste den kürzesten Weg, quer durch die schmalen Gassen, die für jeden Fremden wie ein Labyrinth wirken. Aber trotzdem schlage in den längeren Weg an. Ich brauche noch etwas Zeit für mich.
Ich bin jetzt schon seit 12 Jahren hier. Jenny und mein Vater Bill hatten, als ich sechs Jahre alt war die großartige Idee von München nach Mallorca auszuwandern. Mit vielen Träumen und Hoffnungen haben wir unsere Sachen gepackt und sind hier hergekommen. Die Hoffnung hatten meine Eltern, ich habe ja nicht mal richtig verstanden was passiert, nur dass ich mich von meinen Freunden verabschieden musste. Doch schon bald zerplatzte der Auswanderer Traum und spätestens nach dem mein Vater ein Jahr nach unsere Ankunft auf der Insel, mit einer zehn Jahre jüngeren Spaniern in sein Heimaltland USA durchgebrannt ist verwandelte sich der Traum in einen Alptraum. Vor allem für mich.

Von da an hat Jenny sich verändert, sie hatte einen Typen nach der anderen angeschleppt. Ich war ihr einfach nur im Weg. Ich habe oft das Gefühl, dass es ihr am liebsten wäre mich würde es nicht geben. Früher war ich ihr im Weg, wenn sie mal wieder einen ihrer neuen Freunde mit nach Hause nahm und jetzt gibt sie mir die Schuld, dass sie mit Tom nicht mehr glücklich ist. Nach der Hochzeit vor zwei Jahren ist die Luft schon lange raus. Vielleicht bereut sie es ja auch schon diesen Schritt gemacht zu haben. Ich glaube, aber der Hauptgrund warum sie so zu mir ist, ist, dass ich sie an IHN erinnere. Den, den sie einfach nur vergessen will. Es aber nicht schafft und wahrscheinlich nie wird. Ich sehe im ähnlich. Die Nase habe ich von Bill und meinen unzuverlässigen Charakter, wie sie zu sagen pflegen. 

Ich selbst habe nur noch ein verschwommenes Bild vor Augen, wenn ich an meinen leiblichen Vater denke. Klar, ich weiß noch ganz gut wie er ausgesehen hat, aber die Details fehlen. Vor meinen inneren Augen sehe ich ein Bild eines Mannes, aber sobald ich versuche es genauer zu betrachten verschwimmt es, es entgleitet mir. In etwas so, wie, wenn man versucht sich an Details aus einem Traum zu erinnern. Fotos besitze ich keine. J

enny hat, während einer ihrer Wutanfälle alle Fotos verbrennt, auch meine Kindheitserinnerungen aus Deutschland, alles. Wenn ich sie als Kind nach ihm gefragt habe, hat sie mich entweder angeschrien ich solle diesen Namen nie wieder erwähnen oder mir gleich eine Ohrfeige verpasst. In diesem Haus ist der Name Bill verboten. Das Bedürfnis mehr über diesen Mann zu erfahren ist schon lange verschwunden. Er hat mich hier mit dieser schrecklichen Person, meiner Mutter, allein gelassen.



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