14. Müde

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Der kalte Wind weht meine offenen Haare zurück. Trocknet meine Tränen, bevor sie auf den felsigen Boden tropfen können. Unsanft spannt die Haut meines Gesichts an den Stellen wo sie die salzige Flüssigkeit berührt. Der Geruch nach Meer und Algen liegt mir in der Nase.

Von unten dringt das unverkennbare Geräusch von mächtigen Wellen die gegen Klippen brechen, zu mir herauf.

Meine nackten Zehen tasten sich an den Rand des Felsens heran. Scharf schneidet der spitze Stein in meine Haut. Wo sind nur meine Schuhe, kommt mir plötzlich der Gedanke. Ich kann mich, so sehr ich es auch versuche, nicht daran erinnern sie ausgezogen zu haben. Mein Kopf dröhnt und mein Verstand arbeitet nicht mehr.

Ich bin so unendlich müde.

Mein Blick schweift auf das weite Meer hinaus und dann nach unten zu den tosenden Wellen und den von Muscheln und grünen Algen überzogenen Felsen. Schiwindel überkommt mich. Aber ich habe keine Angst. Nicht mehr.

Ehrlich gesagt habe ich mich selten so ruhig wie jetzt gefühlt. Meine Entscheidung ist gefallen. Und das ist etwas Gutes. Keine Ungewissheit mehr, kein Zweifeln. Ich bin frei.

Das ziellose herumirren des heutigen Tages, der letzten Wochen und Monate geht zu Ende.

Wie spät es wohl ist? Ich könnte mein Handy aus der Hosentasche hervorziehen und nachschauen, aber mein Arm bewegt sich nicht, hängt genauso wie zuvor nur schlaff neben meinem Körper hinunter. Es muss spät sein, denn es ist schon eine ganze Zeit her, dass sie Sonne untergegangen ist. Das glaube ich zumindest.

Tief atme ich die salzige Luft ein und schließe meine Augen nur um ihn zu sehen. Er verfolgt mich. Doch als ich sie wieder öffne, verschwindet er auch.

Die letzten Tage mit ihm waren unglaublich schön. Aber egal wie lebendig ich mich in diesen Stunden gefühlt habe, das ändert nichts an meiner Entscheidung, vielleicht trägt es sogar dazu bei.

Ich werde nicht springen, weil ich depressiv oder einfach nur verrückt bin. Mein Herz beginnt von einem auf den anderen Moment schneller zu schlagen. Springen? Das ist das erste Mal, das ich es wage diesen Gedanken zuzulassen.

Bin ich deswegen hier?

Um zu springen?

Ich kann nicht genau sagen, ich hatte kein konkretes Ziel, das ich angesteuert habe. Aber irgendwann war ich auf der Aussichtsplattform, das Rad achtlos auf den Boden geworfen und schon bin ich über den wackeligen Zaun gestiegen. Jetzt stehe ich hinter der Absperrung und ein paar Büsche, die sich in den letzte Jahren tapfer ihr Revier erhalten, haben schirmen mich doppelt von der Küstenstraße ab

Ja ich werde mich umbringen aber ich bin nicht dumm. Ich bin einfach nur lebensmüde.

Ja genau müde vom Leben. Und das schon mit 19 Jahren, gute Leistung Mia, vielleicht bin ich ja doch verrückt oder depressiv. Aber es ist einfach so, dass derjenige, da oben, der das alles hier unten plant mich vergessen hat. Das Leben hat nichts mehr für mich zu bieten. Also nehme ich es lieber selbst in die Hand und mach dem allen ein Ende.

Eine Windböe erfasst mich und zerrt an mir. Die kalte Luft zischt unsanft an mir vorbei.

So lange hab ich all diese Gefühle verdrängt, sie nicht zugelassen und jetzt sind sie aus ihrer Kiste ausgebrochen und belagern meine Gedanken. Lucas Unfall, das Meer, die Strömung, die Erschöpfung und die Verzweiflung. Zwei Wochen ist das her und damals habe ich mir geschworen ich werde kämpfen aber ich habe auch das erste Mal gefühlt, dass ich genug habe.

Plötzlich höre ich das Knirschen von Steinen unter der Sohle von Schuhen. Nicht jetzt. Nein! Nicht jetzt.

Gestrüpp raschelt und ein Körper lässt sich neben mir auf der Klippe nieder. Ein männlicher Körper, dessen Füße jetzt über den Abgrund baumeln.

SunWo Geschichten leben. Entdecke jetzt