Kapitel 16

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Die letzten zwei Wochen sind ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Der stinknormale, stressige Alltag, eben. Es mag im Allgemeinen nicht so rüberkommen, aber was meine Arbeit und Johnny betrifft, bin ich ziemlich durchorganisiert. So planlos ich sonst durchs Leben laufe, desto strikter gehe ich mit den wichtigen Dingen um. Es ist mir zwar bewusst, dass ich Johnny kein Mutterersatz sein kann und das wäre auch verkehrt, aber eine gewisse Erziehung ist wichtig. Meine Mutter selbst, war für mich immer eher wie eine Freundin gewesen und kannte das Grundprinzip einer konsequenten Erziehungsmethode nicht. Eigentlich konnte ich immer tun und lassen was ich wollte. Da kann man froh sein, dass ich schon in jungen Jahren halbwegs vernünftig war und mich durch meine Freiheiten nicht selbst getötet habe. Noch dazu ist es nicht gerade einfach, bereits so früh, so viel Verantwortung zu haben und das möchte ich meinem Bruder ersparen. Somit ist bei uns alles fest geregelt. Um sieben Uhr aufstehen, frühstücken, dann bringe ich Johnny in die Schule und arbeite. Mittags kommt Johnny in die Praxis, dass ich ihn bei seinen Hausaufgaben im Auge behalten kann und danach hat er grundsätzlich eine halbe Stunde Krankengymnastik bei mir. Ziemlich praktisch, dass ich ihn selbst behandeln kann mit seiner Behinderung. Dann darf er machen was er möchte und ich arbeite bis zum Abendessen weiter. Nachdem ich ihn ins Bett gebracht habe, erledige ich dann noch die Sachen, die tagsüber in dem riesigen Haus liegen geblieben sind. Und das Tag ein, Tag aus. Recht öde, für eine 22-jährige, aber was will man machen?

Meine Grams und mein Opa sind beide schon Ende Siebzig und auch wenn ich mir ständig Genörgel darüber anhören muss, versorge ich die beiden Greise eben mit. Sie sind zwar noch recht fit, aber ich bemühe mich, ihnen alles soweit abzunehmen wie es eben geht. Schließlich darf ich bei ihnen wohnen und habe für den Notfall immer einen Babysitter. Da ist es wohl das Mindeste, das ich mich um den Haushalt kümmere, Wäsche mache und Einkaufen gehe. Ich muss zwar zugeben, dass ich meistens abends völlig tot ins Bett falle, aber ich mache es gern.

Dementsprechend müde bin ich auch, als ich mich an diesem Samstagmorgen auf der Autobahn in Richtung Norden befinde. Ich bin mir sicher, wenn Johnny nicht neben mir sitzen und lauthals zur Musik mit grölen würde, würde ich längst als menschliche Überreste an der Leitplanke kleben. Marcel hat mit Annahme, dass Johnny ihn nicht mag, vollkommen Recht gehabt. Mir ist das gar nicht so aufgefallen, bis er mir das an dem Abend, nachdem Marci wieder abgereist ist, mitgeteilt hat. Mitgeteilt, sei mal so dahingestellt – er hat mir das eher an den Kopf geworfen. ‚Was ist das für ein komischer Spacko? Findest du den ernsthaft gut, oder was? Ich will nicht, dass du dich nochmal mit ihm triffst.' Daraufhin habe ich ihn nur ausgelacht und ihm im Gegenzug eingetrichtert, dass er sich da nicht einzumischen hat. Hätte ich nicht den Erpressungsversuch mit dem Stadionbesuch als Ass im Ärmel gehabt, hätte ich meinen Bruder niemals dazu gekriegt, mit nach Dortmund zu fahren. Ich hoffe einfach, dass er Marcel nach diesem Wochenende leiden kann. Nicht, dass ich irgendetwas auf seine Meinung geben würde, aber es würde die Sache schon deutlich erschweren, wenn da immer schlechte Stimmung herrschen würde. Es ist zwar zum jetzigen Zeitpunkt noch ziemlich verfrüht sich darüber Gedanken zu machen, aber was wäre, wenn ich tatsächlich eine Beziehung mit Marcel eingehen würde? Dann sollten sich die beiden schon verstehen. Johnny ist und bleibt nun Mal der Mittelpunkt meines Lebens.

„Wann sind wir endlich da?", nörgelt der Kleine neben mir zum gefühlt zehntausendsten Mal und ich verdrehe innerlich die Augen.

„Ich hoffe bald. Wenn wir aus dem Stau draußen sind, sollten wir in einer halben Stunde da sein.", antworte ich ihm mit einer Ruhe, die lediglich Fassade ist und überprüfe nochmal die Verkehrsmeldungen im Internet. Wir stehen seit einer geschlagenen Stunde auf dieser dummen Autobahn und das geht mir gewaltig auf den Wecker. Vor allem weil mich mein Navi nicht darauf aufmerksam gemacht hat. Noch dazu bin ich leicht nervös wieder auf Marcel zu treffen. Eigentlich wollte ich ein Hotelzimmer buchen, aber er hat darauf bestanden, dass wir bei ihm unterkommen. Nicht, dass ich das nicht nett finde und mich darüber nicht freue, aber ein bisschen flau ist mir schon im Magen. Irgendwie steht bei uns ja noch alles in der Schwebe und dann bei ihm unterzukommen – und das auch noch mit Johnny - wird schon schief gehen.

Regenbogen [Marco Reus]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt