Fakt fünfzehn

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Fakt fünfzehn: Wir hätten es anders machen sollen.


„Weißt du, so viel an der frischen Luft, wie die letzten Tage, war ich vermutlich als Kind zuletzt", sagte Ira und versuchte ein Lächeln. Es gelang ihm nicht. „Wenn wir noch ein paar Tage länger hier bleiben, nehm ich bestimmt etwas ab."
„Sicher", murmelte ich und wischte mir den beißenden Schweiß von der Stirn. Als ob das was bringen würde ...
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo das rötliche Sonnenlicht durch die Blätter strömte und den herannahenden Abend ankündigte, hörte ich es. Das Meer. Es rauschte und es war fast so, als würde es irgendwo gegen schlagen. Nein, es war nicht nur fast so, es war tatsächlich so. Als ich den letzten Schritt aus dem Dschungel antrat, stockte ich jäh.
„Nein", murmelte ich. Auch Ira war stehen geblieben.
„Eine Klippe", sagte er. „Jared?" Doch durch die erbarmungslosen Wellen war er kaum zu hören.
Wir teilten uns auf und gingen in je eine Richtung. Jedoch entfernte ich mich nur so weit von ihm, dass ich ihn noch immer sehen konnte. Mittlerweile hatte ich noch mehr Angst, mich von ihm zu trennen.
Diese Seite der Insel war sehr kahl und steinig. Ich wagte mich vor, um zu überprüfen, ob Jared gestürzt und seine Leiche möglicherweise dort unten lag, doch selbst wenn, könnte ich es nicht sehen. Die Wellen brachen sich am Fuß der Klippen und ließen kaum etwas erkennen.
War er hier überhaupt angekommen?
„Nichts", schrie Ira und lief auf mich zu. „Hast du was gefunden?" Bedauernd schüttelte ich den Kopf.
Er machte Anstalten, sich auf den Rand zuzubewegen, doch ich zog ihn zurück. Wer wusste schon, wie tollpatschig er war?
„Auf die Idee bin ich auch schon gekommen", rief ich laut. Es war schwer, meine eigene Stimme zu verstehen.
Ich ließ ihm einige Augenblicke, in denen er sich sammeln konnte. Ich selbst nutzte die Zeit, um etwas Luft zu holen, bis wir wieder zurückgehen würden.
Plötzlich zeigte Ira auf etwas. Ich drehte mich um.
Links von uns erstreckte sich eine Grünfläche, die einer Wiese nicht unähnlich sah und direkt am Dschungel angrenzte.
„Vielleicht ist er da lang?"
Ich zuckte lediglich mit den Achseln.
„Komm", sagte er, packte meinen Arm und zog mich stur mit sich. Als der Geräuschpegel nicht mehr ganz so laut war, blieb ich stehen.
„Nein, Ira", sagte ich möglichst liebevoll, was mir nicht gerade leicht fiel. „Ich will mich nicht verlaufen."
„Aber vielleicht ist er dort!", protestierte er und sah mich wütend an. „Geh doch mal ein Risiko ein!"
Ach, das alles war kein Risiko gewesen?
„Als ob du dich ständig irgendwelchen Risiken aussetzen würdest", pflaumte ich ihn an. Ich wusste, dass ich anders hätte reagieren müssen, doch ich wollte einfach zurück zum Strand. Zumindest konnten wir uns dort nicht irgendwo verlaufen.
„Ja, ständig", antwortete er. Dann runzelte er die Stirn. „Zumindest in Computerspielen, aber viel anders kann das hier auch nicht sein."
Bitte?!
Sein Blick war bestimmend und ich dachte mir schon, dass er schwer davon abzubringen war, was sein nächster Satz bestätigte. „Du kannst ja durch den Dschungel, aber ich werde diesen Weg nehmen. Früher oder später werde ich schon am Strand ankommen."
Ich ließ die Luft mit einem tiefen Atemzug in meine Lungen. Ich hätte schreien können!
„Meinetwegen komme ich mit", murmelte ich gegen meinen Willen. Doch was blieb mir anderes übrig? Allein sein oder mit einem Trottel auf einer einsamen Insel herumirren?
Das Gras war ziemlich hoch und reichte mir fast bis zu den Knien. Ich konnte nur hoffen, dass sich keine Spinnen oder derartiges an meine Beine heftete.
Eigentlich war es schön hier. Eine Weile noch konnten wir das Meer sehen, bis wir uns offenbar irgendwann zu tief auf der Insel dafür befanden. Manchmal ging es bergauf und manchmal wiederum gingen wir steil nach unten. Ich fand es eigenartig, solch ein Stück Land auf einer Insel zu finden, aber scheinbar war sie größer, als ich zu Anfang angenommen hatte. Vielleicht würde uns gerade das helfen, um hier wegzukommen. Möglicherweise war diese Insel keine der vielen Unbekannten. Sie könnte jemanden gehören, der für ein paar Wochen im Jahr hier Urlaub machte. Aber würde dann nicht irgendwo ein Haus stehen?
„Meine Füße tun weh", meckerte ich nach einer Weile und gab Ira die Schuld, obwohl ich genau wusste, dass wir durch den Dschungel auch nicht schneller zurückgekommen wären.
„Meine doch auch", erwiderte er und sah mich an. „Ich will meinen Onkel finden", sagte er dann etwas leiser.
Ich seufzte tief. „Ich verstehe das", sagte ich und holte Luft. Vielleicht verliefen wir uns. Vielleicht aber auch nicht. Zumindest waren wir zusammen.
Wir gingen noch so lange, bis die Sonne nicht mehr ganz so heiß auf unsere verschwitzten Körper hinab schien. Dann sah ich von weitem den Dschungel.
„Mist", rief Ira aus und ließ sich überraschenderweise auf den Boden sinken. „Ich war mir so sicher, ihn hier zu finden." Er legte den Kopf in die Hände.
„Er ist bestimmt hier irgendwo", antwortete ich und sah mich gründlich um. Keine Anzeichen von Jared. Dennoch versuchte ich zuversichtlich zu sein. Für ihn. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus, setzte ich mich zu ihm. „Eine gute Idee. Wir könnten hier über Nacht bleiben. Schließlich ist es schon bald Abend und das erspart uns eine weitere Übernachtung im Dschungel. Ich habe das Gefühl, dass wir ihn finden werden. Morgen."

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