Fakt fünfundzwanzig: Auf der Insel sollte Peinlichkeit ein Fremdwort sein.
„Tut mir leid Ira, aber du stinkst", sagte ich und rückte ein Stück von ihm ab.
„Ja, das hat meine Mom auch immer gesagt."
Ich schüttelte lachend den Kopf über ihn. Und mir fiel auf, wie gut es tat, endlich mal wieder lachen zu können.Inzwischen waren vier Tage vergangen, in denen Ira und ich ständig dabei waren, zu fischen, Früchte zu sammeln und die Hütte weiterzubauen. Jared hingegen schlief viel. Ich wusste nicht, ob er krank wurde oder ob er einfach nur erschöpft war. Doch das waren wir alle.
Ira und ich hatten beschlossen, ein paar Tage zu warten, bis wir nach einem Boot suchen wollten. Aber ich schlich mich, wenn beide schliefen, immer wieder für ein paar Minuten, manchmal sogar gefühlt eine Stunde weg, um den Strand abzusuchen. Weit kam ich natürlich nicht, aber ich suchte die beiden Richtungen abwechselnd ab, sodass ich in der näheren Umgebung nichts ausließ. Manchmal rannte ich sogar.
Doch selbst am Rand des Dschungels fand ich keine Spuren von einem Boot. Waren diese Menschen vielleicht auf die gleiche Weise hier gelandet wie wir? Gab es vielleicht gar keine Reste von ihrem Unglück? War alles vergebliche Hoffnung? Vielleicht wurde ich auch einfach nur verrückt.
Ich glaubte sowieso, dass wir es früher oder später werden würden. Irre. Zumindest wenn wir hier noch ewig festsaßen.„Ich vermisse meine Familie", murmelte ich und malte gelangweilt Kreise in den weichen Sand.
„Und ich meine Mom, meinen Computer und ... Chips. Noch nie hatte ich solch einen Hunger", murmelte er und hielt sich traurig den Bauch. Zumindest hatte er abgenommen. Etwas.
„Komm", meinte ich dann, stand auf und klopfte mir den Sand von der Hose. Ich reichte ihm meine Hand und half ihm auf. „Die Hütte muss fertig werden."In den letzten paar Tagen hatte sich nicht viel getan. Wenn jemand noch untalentierter war als Jared, dann war ich es. Aber das Bauen, die Beschäftigung half mir mit meinen Dämonen zurechtzukommen. Es gab mir Halt, Sicherheit und das Gefühl, etwas sinnvolles zu tun. Wie sich herausstellte, war dieses Empfinden wertvoll.
Mit bedachter Vorsicht nahm ich das Messer in meine rauen Hände und begann ein Stück Holz zurechtzuschneiden. Inständig hoffte ich, dass ich nicht so tollpatschig war, mir das Teil in mein empfindliches Fleisch zu rammen.Die Sonne brannte erbarmungslos auf meinen verschwitzten Körper und ließ meine Sonnenbrände auf den Armen und im Gesicht noch schlimmer werden. Einer der Nachteile, wenn man auf einer Insel war.
Es vergingen Stunden, ehe wir aufhörten. Inzwischen war es schon früher Abend und mittlerweile konnte ich meinen eigenen Geruch nicht mehr länger ertragen. Wie gerne hätte ich jetzt eine schöne, erfrischende Dusche! Der Ozean war großartig, konnte aber auf Dauer dennoch nicht mithalten.
Auch wenn wir uns schon eine Weile kannten, ging ich immer noch etliche Meter weiter weg wenn ich nackt baden wollte. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mich ohne Klamotten zur Schau zu stellen. Wie immer war ich erstaunt darüber, dass meine Haut an den bedeckten Stellen fast noch dasselbe Weiß besaß wie zu Hause. Irgendwie hatte das etwas Tröstendes.Das kühle Wasser schmiegte sich an meinen Körper und ich schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und atmete den mittlerweile vertrauten Duft des Meeres in meine Lungen. Dann wusch ich mich so gut es ging. Als ich über meine Beine strich, bemerkte ich die weichen Härchen, die mich schon länger störten. Seufzend machte ich weiter, genau so lange, bis mir eine Idee kam, die wohl recht bescheuert war.
Ich watete aus dem Wasser, zog lediglich mein T-Shirt und meine Unterhose an und lief so unauffällig ich konnte zu der angefangenen Hütte. Schon nach wenigen Sekunden waren meine Klamotten feucht von meiner nassen Haut und auch wenn ich dieses Gefühl hasste, war es doch jetzt egal. Ich entdeckte Ira, der ebenfalls gerade im Meer schwamm, jedoch offensichtlich und nicht so versteckt wie ich es immer tat. Schnell griff ich nach dem Messer und verkroch mich wieder an meinen Platz von eben. Dann setzte ich mich in den Sand und streckte mein rechts Bein vor mir aus. Zugegeben, ich zitterte etwas als ich das Messer ansetzte und man müsste meinen, ich wäre nach der Aktion von Jared etwas klüger was den Umgang mit diesem Teil anging. War ich aber nicht.Vorsichtig strich ich mit der Klinge nach oben. Es ziepte etwas, tat aber nicht sonderlich weh.
„Liv", schrie plötzlich jemand und mir war sofort klar, dass es nur Ira sein konnte. Panisch buddelte ich das Messer in den Sand hinein und tat so, als würde ich das Meer beobachten.
„Ira", tat ich beleidigt und warf ihm einen wütenden Blick zu. „Du weißt doch, dass ich hier alleine sein will."
Doch das interessierte ihn überraschend wenig. „Wo ist es?", zische er, was außerordentlich komisch klang.„Wo ist was?", stellte ich mich dumm und schüttelte den Kopf. Unauffällig versuchte ich das Messer noch etwas tiefer in den Sand zu drücken und legte dann meine Hand auf die Stelle, die ich eben noch rasiert hatte. Ich bemerkte, dass es so ziemlich gar nichts genützt hatte.
„Was wohl", grummelte er. Er stemmte die Hände in seine speckigen Hüften und sah mich von oben herab an.
„Keine Ahnung?" Ich versuchte möglichst genervt zu klingen, was mir meiner Meinung nach ganz wunderbar gelang.
„Das Messer, Liv", antwortete er.
Ich stand auf und war nun das erste mal ohne meine Hose ihm gegenüber. Es war weniger peinlich als ich immer geglaubt hatte.
„Ich weiß absolut nicht, wovon du sprichst, Ira", sagte ich bestimmt, schnappte mir meine restlichen Klamotten und ging an ihm vorbei zu Jared.
Das Messer vergaß ich dabei völlig.
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Forgotten Island
AventureFakt eins: Schon seit ich ein kleines Mädchen war, träumte ich davon, in einem Paradies zu leben. Fakt zwei: Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als geliebt zu werden. Fakt drei: Nie hätte ich gedacht, dass mir etwas Schlimmes zustoßen könnte. ...