Fakt siebenundzwanzig

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Fakt siebenundzwanzig: Manchmal passiert auch Unerwartetes.

Ich küsste ihn. So richtig.
Meine Lippen drückten sich auf seine und fühlten sich hart und kratzig, aber dennoch warm an.
Als ich realisierte was ich da gerade tat, wich ich erschrocken einen Schritt zurück und starrte ihn peinlich berührt an.

„Ehm", murmelte ich und hustete einmal, damit ich Zeit gewann. „Entschuldige", presste ich dann hervor, strich mir ein paar unsichtbare Haarsträhnen aus dem Gesicht und lächelte schief. Vielleicht würde er dann darüber lachen.
„Nein, Liv", hauchte er dann und umfasste mein Handgelenk. Ich merkte, dass er mich zu sich ziehen wollte, doch ich löste meinen Arm sanft aus seinem lockeren Griff.

„Es tut mir leid, Ira", sagte ich mit fester Stimme und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. „Ich wollte das nicht."
Was er dann für ein Gesicht machte, zerbrach mir das Herz. Er sah aus wie ein verletzter Welpe, auch wenn das ein ziemlich bescheuerter Vergleich war. Eine Sekunde später schien er sich jedoch wieder gefasst zu haben.
„Schon klar", sagte er leise und räusperte sich einmal. „Na ja, jedenfalls haben wir es jetzt wieder." Er hob das Messer kurz an. „Jared schläft noch. Ich dachte, wir könnten uns auf die Suche nach einem Boot machen, solange er nicht protestieren kann?"

Dieser plötzliche Umschwung verwirrte mich, dennoch war ich einverstanden. Was sollte ich auch dagegen haben? Ich wusste zwar, dass es in der unmittelbaren Umgebung keines gab, möglicherweise schafften wir es aber auch ein Stück weiter dorthin, wohin ich nicht gekommen war.
„Sicher", stimmte ich zu und zuckte mit den Schultern. Ich war mir im Klaren darüber, dass ich wirklich Glück hatte, dass Ira einigermaßen gut auf diesen Kuss reagiert hatte. Es hätte auch anders laufen können.
„Lass uns unser Wasser auffüllen und dann losgehen", schlug ich vor und nickte in die Richtung, wo sich unser inoffizielles Lager befand.

Auch wenn der Weg alles andere als weit war, empfand ich diesen als unangenehm. Besonders, weil Ira mich immer wieder mit seinem Arm streifte und ich daraufhin unauffällig von ihm abrückte. Wie sollte das erst auf dem langen Weg werden?
Doch unser Plan wurde jäh durchkreuzt als Jared auf einmal vor der Holzhütte stand und Bretter aufstellte. Das sie ihm immer wieder hinfielen und er von vorne anfangen musste, schien ihn nicht davon abhalten zu wollen.

„Jared", sagte Ira laut und trabte langsam zu ihm, um ihm seine Bretter aus der Hand zu nehmen und ihn zurück in den Sand zu drücken. „Leg dich besser hin", hörte ich ihn sagen, dann war ich auch schon bei ihnen. Jared sah noch immer blass aus. Erschöpft und völlig ausgelaugt. Dieser Anblick hatte sich mir noch nie bei ihm geboten.
„Wir machen die Hütte fertig, Alter", sagte er, klang dabei aber nicht stark und selbstbewusst wie er es sonst immer getan hatte.

„Ein andermal", antwortete Ira, schnappte sich die Wasserflasche vom Boden und reichte sie Jared. Als er sie nicht nahm, öffnete er den Deckel und drückte sie ihm förmlich ins Gesicht. Mit einem genervten Aufstöhnen trank er dann auch endlich.
Ich warf Ira einen besorgten Blick zu. Wir wussten beide, dass Jared schlecht aussah. Und was wir ebenfalls wussten war, dass wir rein gar nichts dagegen unternehmen konnten.
„Wie geht's dir, Jared?", fragte ich und hockte mich vor ihm hin.
„Wo sind wir, Mädchen? Ich bin nicht dein Patient." Er versuchte es bissig klingen zu lassen, aber es gelang ihm kaum. „Gut", nickte er dann und trank noch einen Schluck aus der Flasche.
Natürlich log er.

„Darf ich mal deine Wunde sehen?", fragte Ira und deutete auf Jared's Arm. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass er ihn Ira bereitwillig entgegenstreckte, damit er das Shirt lösen konnte. Sicherheitshalber drehte ich meinen Kopf zur Seite. Doch selbst der Gedanke daran, wie sie aussehen konnte, löste bei mir leichten Schwindel aus.
„Sie hat sich entzündet", murmelte er und ich spürte währenddessen, wie in mir die Übelkeit hochstieg.
Immer schön ein- und ausatmen, Liv,
dachte ich beruhigend. Als ich würgende Geräusche wahrnahm, wusste ich, dass sie von Jared stammen mussten.

Wie Ira das aushielt, war mir nicht klar.
„Wir sollten ihm auch die letzten Tabletten Paracetamol geben", sagte er und stand aus der Hocke wieder auf. „Komm mit, Liv."

Ich stand ebenfalls auf und trottete mit ihm zu meinem Rucksack. Auch wenn mir klar war, dass Jared dieses Medikament unbedingt brauchte, versetzte es mich dennoch in Unruhe. Was, wenn einer von uns auch krank werden würde? Was, wenn wir diese Tabletten noch brauchen würden? Wir waren erst seit zweieinhalb Monaten auf dieser Insel gefangen und wussten nicht, was uns noch bevorstand.

„Dir ist klar, dass es ein Fehler sein könnte?", murmelte ich also, schämte mich dann aber für die ausgesprochenen Worte.
„Was meinst du?", fragte er und sah mich streng an. In den letzten Tagen hatte ich das Gefühl, Ira wäre erwachsener geworden. Ich spürte, dass er nicht mehr derselbe war, wie am Anfang. Ob ich mich auch verändert hatte? Hatte ich auch die Selbstständigkeit erreicht, die meine Eltern sich von mir immer so sehr gewünscht hatten? Doch dann dachte ich an die Aktion mit dem Messer und beantwortete mir meine Frage selbst. Ich war noch immer ein Mensch, der nicht genügend nachdachte. Der immer noch von einem Moment zu dem Anderen handelte.
„Ich meine, dass wir die Tabletten irgendwann noch einmal brauchen könnten", antwortete ich also. Was bereits ausgesprochen war, konnte man nicht zurücknehmen. Immerhin fand ich meine Sorge berechtigt.

„Wir brauchen sie genau jetzt, Liv." Ira sah mich bestimmend an. Sein Blick ließ keine Wiederworte zu. „Das Einzige, worüber wir uns Sorgen machen sollten ist, ob diese Tabletten überhaupt ausreichen."
Ich holte tief Luft um noch etwas zu erwidern, doch ich kam gar nicht dazu.
„Verdammte Scheiße, nein", fauchte er und seine Augen glühten.
Ich hatte ihn noch nie zuvor fluchen gehört.

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