Fakt vierzig

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Fakt vierzig: Besser spät als nie.

Der Weg war kürzer als ich zuerst angenommen hatte.
Noch ehe die Dämmerung einbrach, waren wir dort. Jetzt erkannte ich auch, dass ich noch nie zuvor hier gewesen war. Diese Stelle der Insel hatte ich ausgelassen, gar nicht erst entdeckt.
Das Lager der Eingeborenen, oder eher das kleine Dorf, erreichte man, wenn man sich durch das dichte Pflanzengestrüpp schlug. Es war also geschützt und von außen gar nicht zu erkennen.
Wir duckten uns hinter einigen Büschen und waren so – laut des Professors – unsichtbar.

Ich brauchte eine Weile, um zu die Umgebung richtig wahrzunehmen und um zu realisieren, was hier gerade geschah.
Diese Menschen, oder eher Monster, hatten ebenfalls Hütten. Nun, nicht so eine wie wir sie hatten. Das war klar.
Sie ließen sich vergleichen mit einer schäbigen Mietwohnung, die augenscheinlich bald auseinanderfiel und einem netten, kleinen Familienhäuschen, welches ansehnlich am Straßenrand thronte.

Diese Hütten waren breit und nicht sehr hoch, vielleicht konnte ein Mann gerade noch so aufrecht in ihnen stehen. Ihr Dach bestand aus hellem Stroh und war leicht spitz zulaufend. Und sie sahen auf jeden Fall gemütlicher aus.
Nicht alle der Unterkünfte befanden sich in meinem Sichtfeld, sodass ich sie nicht zählen konnte. Aber ich sah sechs Stück. Ich schätzte, es waren ohnehin nicht viel mehr.

Draußen sah ich ein paar Menschen, Frauen, die ihre Kleider wuschen oder mit ihren Kindern spielten. Ihre Haut war dunkel und sie trugen kaum Kleidung. Lediglich ein Stück Stoff oder was auch immer das sein sollte, bedeckte ihren Intimbereich.
Die Atmosphäre war friedlich, sie wirkten ruhig und zufrieden. Nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Wenn ich nicht wüsste, dass sie gefährlich waren, hätte ich sie als sympathisch befunden. Vermutlich hätte ich sie sogar angesprochen, wären sie mir in den ersten Tagen auf der Insel begegnet.

„Wo sind sie?", raunte ich dem Professor zu. Mein Herz schlug wild in meiner Brust, sodass ich es mit jedem Schlag in mir spüren konnte. Fasziniert sah er den Frauen zu, offenbar hörte er mich nicht. Vorsichtig, damit er sich nicht erschrak, legte ich ihm eine schwitzige Hand auf den Arm. Es dauerte einen Moment, bis er sich zu mir umdrehte.

„Wo sind sie?", wiederholte ich meine Frage zitternd. Die zarten Blätter um mich herum raschelten leise bei meinen unkontrollierten Bewegungen und ich zwang mich, mich zu beruhigen.
Verzweifelt suchte ich mit den Augen die unmittelbare Umgebung ab, doch ich konnte die Beiden einfach nicht finden. Waren sie vielleicht gar nicht mehr am Leben?
„Auf der anderen Seite", antwortete der Professor leise. Ich konnte förmlich spüren, wie mir ein Stein vom Herzen fiel. Doch noch war es längst nicht vorbei.

Zögerlich erhob ich mich etwas, sodass ich in geduckter Haltung weitergehen konnte. Leider waren nicht überall Büsche, sodass wir einige Meter schutzlos sein würden.
„Wie oft haben sie das schon gemacht, Professor?", wisperte ich und kaute nervös auf meiner Unterlippe herum.
„Oft", bestätigte er meine Hoffnung und nickte. „Bis jetzt ist offensichtlich immer alles gut gegangen."

Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf ungeschützten Boden. Dann noch einen. Mit jedem Schritt befürchtete ich, sie könnten uns sehen, obgleich wir uns gerade hinter einer der Hütten befanden. Gebannt hielt ich den Atmen an und ließ erst wieder Sauerstoff in meine Lungen, als ich mich sicher im nächsten Gebüsch verstecken konnte.
„Wir müssen noch etwas weiter", flüsterte der Professor und drückte mich vorwärts. Nur ungern verließ ich die schützenden Blätter.

Unwillkürlich fragte ich mich, was sie wohl mit uns anstellen würden, fänden sie uns. Immer wenn wir zwischen zwei Hütten hervorkamen, richtete ich meinen Blick auf die Frauen mit ihren Kindern. Glücklicherweise schienen sie ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein. „Bleibt dicht beieinander, Kinder. Da drüben ist es." Der Professor zeigte mit ausgestrecktem Arm nach vorne. Doch meine Augen erblickten ... nichts.

„Wo?", fragte ich und als der Professor nicht antwortete, war ich mir kurz unsicher, ob ich es überhaupt ausgesprochen hatte, aber dann deutete er noch einmal auf die Stelle von eben. Tatsache war jedoch, dass das, worauf der Professor zeigte, verdammt nah an den Hütten war. Aber gut, das hatte ich mir ohnehin schon denken können.

Langsam ging ich auf das große Nichts zu und glaubte einfach nicht daran, dass hier etwas war, wo Jared und Ira sich aufhielten. Doch dann wäre ich beinahe dort rein gestolpert. Die ganze Zeit über hatte ich meinen Blick starr geradeaus gerichtet, die Scheuklappen aufgesetzt. Das einzige, was ich hätte tun müssen war, mein Gesicht dem Boden zuzuwenden.

Unter mir grub sich ein tiefes Loch in den Boden und beherbergte meine Freunde. Sie waren nicht gefesselt oder geknebelt (vermutlich hielten die Eingeborenen das einfach nicht für nötig, weil es hier ohnehin keine anderen Menschen gab), aber sie sahen nicht gut aus. Ihre Körper waren verdreckt und Blut klebte an ihrer Kleidung. Ich keuchte entsetzt auf, als ich Ira's geschwollenes Auge und die blutige Lippe sah. Einzig und allein, dass Jared nicht mehr krank aussah, erschien mir gut zu sein. Augenscheinlich hatte er sich erholt. Wenn man das dann so nennen konnte.

Vier ungläubige Augen starrten mich an, während ich Freude empfand.
„Liv", rief Ira aus und beim Klang seiner Stimme, begann mein Herz höher zu schlagen.
„Sei still", keifte Jared und stieß Ira unsanft in die Seite.
„Du kommst spät, Mädchen", sagte er, lachte aber dabei.
„Aber ich bin hier", lächelte ich.

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