Fakt neun

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Fakt neun: Du bist nie allein.


„Einer von uns wird am Strand bleiben müssen, falls ein Boot oder sowas hier in die Nähe kommt."
„Was für Boote sollen so weit raus fahren?", fragte ich und verschränkte die Arme vor die Brust. Trotzdem war ich auch dafür, wenn einer hier blieb.
„Ist das irgendein genetischer Defekt oder so, dass du immer gegenan quatschen musst, Mädchen?" Jared sah mich genervt an. Mit dem würde ich sicher nicht in diesen Dschungel gehen.
„Ich bleib hier", sagte ich, mehr zu Ira als zu Jared. Auch wenn ich Ira ebenfalls nicht leiden konnte und ich unter normalen Umständen vermutlich nie mit ihm gesprochen hätte, war er der Sympatischere von den beiden.
„Nein", fiel Jared mir scharf ins Wort. „Kannst du schwimmen, Fetti?" Das ging an Ira. Wie fies! Doch er verzog keine Mine. Offenbar war er Beleidigungen schon gewohnt. Stattdessen zuckte er mit den Schultern und nickte. „Gut, falls ein Boot kommt und dich nicht sieht, schwimmst du raus und rettest uns, verstanden?"
„Wieso darf er hierbleiben?", fuhr ich Jared an. Ich hatte wirklich keine Lust mit ihm alleine zu sein. Wütend stemmte ich meine Hände in die Hüften.
„Weil du etwas sportlicher aussiehst als er", erwiderte Jared. „Die Insel könnte hügelig sein. Vielleicht müssen wir klettern. Nach der Hälfte schlapp zu machen, können wir uns nicht leisten."
Doch so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben! „Ich bin mir sicher, dass Ira es schafft, nicht wahr?" Ich warf ihm einen aufmunternden Blick zu.
„Nö", antwortete er sofort und sah mich entschuldigend an. „Jared hat schon recht. Sport ist nicht ganz so mein Ding."
Die Genugtuung, die sich für diesen Idioten ergeben hatte, machte mich noch mehr wütend. Jared lachte selbstgefällig. Aber ich wusste, wann ich verloren hatte.
Genervt verdrehte ich die Augen. „Na schön. Wir nehmen die Flasche mit. Wenn du Durst hast, lauf zur Wasserquelle. Aber sei nicht allzu lange vom Strand weg."
Ich schnappte mir das Plastikding. Hoffentlich würde ein Liter einigermaßen ausreichen.

Ich wünschte, ich hätte eine Armbanduhr dabei gehabt. Es fühlte sich wie ein ganzer Tag an, an dem ich mit Jared durch den Dschungel der Insel irrte. Doch hier und da konnte ich durch die dichten Baumkronen erkennen, dass noch immer die Sonne schien.
Vor unserem Aufbruch hatten wir uns Wasser geholt und seither kein Neues mehr gefunden. Was nichts zu bedeuten hatte. Irgendwo musste es doch etwas geben! Was wir allerdings gefunden hatten, waren ein paar exotische Beeren. Sie waren nicht giftig, was wir aber erst wussten, als wir welche gegessen hatten. Es waren nicht viele gewesen aber der süße Geschmack hatte meine Laune ein wenig verbessert. Dennoch tat mir nun alles weh.
„Wie können wir sichergehen uns nicht zu verlaufen?", fragte ich zum zehnten Mal.
Jared stöhnte auf. „Wir gehen nur geradeaus. Für's erste zumindest."
Zufrieden war ich damit nicht.
Zu meiner Linken entdeckte ich einen Busch mit weiteren Beeren. Ohne das er es merkte, ging ich zu ihnen und griff danach.
„Igitt", schrie ich plötzlich als ich eine Spinne sah. Hoffentlich war sie nicht giftig! Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was für Tiere hier noch so lebten. Besser nicht drüber nachdenken.
Jared drehte sich zu mir um. „Hau nicht einfach so ab", rief er und er klang wütend. „Nur zur Info: Ich werde dich nicht suchen, falls du verloren gehst!"
„Ist ja gut", murmelte ich und pflückte Beeren in meine Hand. So weit weg von der Spinne, wie es eben ging ...
„Hier", sagte ich und gab ihm nicht ganz die Hälfte meiner Beute ab.
„Danke", antwortete er und steckte sich ein paar in den Mund.
„Ich glaube nicht, dass wir hier andere Menschen finden."
„Wäre auch besser so. Ich denke nicht, dass sie sonderlich zivilisiert sein würden."
„Wie kommt es, dass du eine Maschine fliegst, die du nicht fliegen darfst?", fragte ich plötzlich. Ich wusste nicht, warum ich es wissen wollte. Ging es mich überhaupt etwas an? Eigentlich nicht. Aber irgendwie auch schon. Schließlich bin ich mit ihm geflogen. Und gefallen.
„Hab eben keine Zulassung. Der Hubschrauber war mein Baby." Ich sah ihn eindringlich von der Seite an. „Und ich brauchte das Geld."
„Aha", machte ich. „Hast du das Fliegen gelernt? Ich meine professionell."
„Was denkst du?" Jetzt sah er mich an. Verstehe. „Und du? Was machst du, wenn du nicht gerade auf einer Insel rumhängst? Wieso wolltest du so dringend weiterfliegen?"
Dann hörte ich es. „Pst!"
Jared lachte. Offensichtlich hatte er das Rascheln nicht wahrgenommen.
„Seit still!", ermahnte ich ihn. „Da war was."
Er blieb stehen und sah sich um. „Bist du sicher?"
Mein Herz hämmerte heftig gegen meinen Brustkorb. Ich dachte nicht lange darüber nach, sondern nahm einfach seine Hand. Sie fühlte sich stark und warm in meiner an. Wir horchten, konnten aber nichts mehr hören. Es war weg.
„Vielleicht ein Tier?", sagte Jared, hielt meine Hand aber dennoch fest. Irgendwie war ich plötzlich dankbar für seine Anwesenheit.
Jared zuckte zusammen. „Da war es wieder. Es kam aus dieser Richtung", sagte er und zeigte nach rechts. Dieses mal hatte ich nichts gehört. „Beweg dich leise", flüsterte er.
Vorsichtig ging er in die Richtung, in der er das Geräusch vermutete. Doch ich zog ihm leicht am Arm.
„Nicht", murmelte ich und sah ihn in die Augen. Meine Hände begannen zu schwitzen, was mir normalerweise wahnsinnig peinlich gewesen wäre, jetzt aber egal war.
„Los jetzt", herrschte er mich an. Ich wäre gerne stehen geblieben aber noch größere Angst, als dem Geräusch zu folgen, hatte ich davor, alleine zu bleiben. Also folgte ich ihm. Akribisch achtete ich darauf, dass ich auf keinen Zweig oder sonstigem trat, das uns verraten könnte. Am nächsten Baum ließ Jared meine Hand los.
„Bleib genau hier stehen", sagte er. „Genau hier." Ich wollte widersprechen, traute mich aber nicht. Ich sah, wie er sich ins tiefe Dickicht entfernte. Langsam zählte ich bis zehn, dann noch einmal und noch zwei weitere Male. Ein Schrei zerriss die Luft.
Ich wusste nicht, woher meine Beine wussten, dass sie laufen sollten. Ich schätze, sie taten es aus einem Reflex heraus. Ich schlug mich den Weg entlang, dorthin, wo eben noch Jared langgegangen war. Als ich ankam stand er einfach nur da, dann lachte er.
„Ich wollt mal sehen, wie schnell du bist", sagte er und ging amüsiert auf mich zu. „War bloß ne' Schlange. Kein Grund zur Panik, Schätzchen."
„Du Idiot!", rief ich aus. Ruckartig drehte ich mich um und ging zurück. „Was soll das?", schrie ich weiter. „Du hast mir Angst gemacht!" Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und hielt mich zurück. Die Tränen, die sich angesammelt hatten, konnte ich nicht mehr wegwischen, bevor er mich zu sich umdrehte.
„Hey", sagte er ungewöhnlich sanft. „Tut mir leid. Ich wollt mir n' Spaß draus machen. Konnt nicht wissen, dass es dich so in Schrecken versetzt."
Ich schnaubte verächtlich.
„Kommt nicht wieder vor, okay?"
„Nichts ist okay", giftete ich, schüttelte mich von ihm los und ging weiter.
Eine ganze Weile verbrachten wir mit Schweigen. Ich dachte daran, welche Sorgen sich meine Eltern machen mussten, welchen Durst ich hatte und Hunger. Ich betete, dass wir Wasser finden würden. Unsere Flasche hatten wir schon lange aufgebraucht.
Wir hatten gemerkt, wie es immer dunkler wurde, aber jetzt konnte man kaum noch etwas erkennen. Wir irrten umher, ohne etwas zu sehen.
Abrupt blieb Jared stehen. „Das hat keinen Sinn mehr. Wir bleiben über Nacht hier."
Bitte?
„Hier?! Im Dschungel?"
„Haben wir eine Wahl? Es könnte noch sonst wie weit sein, bis wir auf der anderen Seite am Strand ankommen. Wenn es den überhaupt gibt. Vielleicht werden es bloß Klippen sein. Ist dir nicht aufgefallen, dass wir praktisch einen Berg hochsteigen? Auch wenn er bloß flach ist."
Ich wusste, dass er Recht hatte, aber der Gedanke hier zu schlafen, machte mich nervös. Sollten wir uns einfach auf die Erde legen, umgeben von sonst was für Tieren?
„Nur noch ein Stück, bitte. Vielleicht sind wir gleich da."
„Liv, nein." Jared's Stimme klang sanft, aber bestimmend. „Wir sollten zusehen, dass wir uns nicht verlaufen."
Ich hörte das raschelnde Geräusch als Jared sich hinlegte. Die erste Nacht auf der Insel. Der Strand wäre mir lieber gewesen.
„Komm ruhig her", sagte er. Ich könnte schwören, dass er nicht sehr begeistert war. Jared streckte den Arm nach mir aus und ich legte mich mit meinen Kopf auf seinen Oberkörper. Auch wenn es mir nicht gefiel, war es besser als im Dreck zu liegen.
Er roch nach Schweiß und ich hoffte, mein Geruchssinn würde sich schnell verabschieden.
Als ich mich allmählich damit damit abgefunden hatte, schwirrten mir die Ereignisse des Tages in meinem Kopf herum. Vor noch einem Tag lag ich gemütlich in meinem eigenen Bett.
Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was meine Eltern jetzt gerade durchmachen mussten. Inzwischen war ich sicher, dass Lacey' Eltern meine informiert hatten, die wiederum hoffentlich die Polizei eingeschaltet hatten. Morgen würde ich vielleicht sogar wieder zu Hause sein. Oder bei meiner besten Freundin im Hotel. Hoffentlich.

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