Fakt vierundvierzig

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Fakt vierundvierzig: Mit Rückschlägen sollte man umgehen können.

Es war, als würde er sein eigenes Todesurteil unterzeichnen.
Er ist verrückt,
schoss es mir durch den Kopf.
„Meine Aufzeichnungen! Ich kann sie nicht hier lassen. Das ist mein Lebenswerk", stammelte er und sah sich nervös um.
„Das ist doch jetzt völlig unwichtig, alter Mann", knurrte Jared und trieb die Gruppe weiter voran. Auch ich wollte weiterlaufen. Wir hätten schon mehr Schritte machen können.
„Un ... unwichtig?" In seinem Blick lag Fassungslosigkeit.
„Du hast mir viel erzählt", mischte Amelie sich schnell ein. „Wir können, wenn wir wieder zu Hause sind, alles neu aufschreiben. Gemeinsam. Versprochen." Panik verbreitete sich zwischen uns. Das konnte doch nicht sein ernst sein?

„Nein, ich brauche sie. Wirklich." Mit diesen Worten ließ er das Boot los. Auch wenn es nur eine einzelne Person war, merkte ich das zusätzliche Gewicht. „Lauft zum Strand. Wartet dort auf mich", sagte er hastig und rannte wie ein Irrer in den Dschungel hinein. Amelie setzt an nach ihm zu rufen doch ich hielt sie zurück.
„Wenn wir zu laut sind, könnten sie uns finden", erklärte ich und legte den Kopf schief, was so viel bedeuten sollte, dass wir weiter mussten. „Er wird schon zum Strand finden. Mit dem Boot hier sind wir ohnehin langsamer als er." Ich wusste nicht, ob ich recht hatte, aber das beruhigte Amelie fürs Erste. „Wir werden dort auf ihn warten."

Als ich Jared's Blick daraufhin sah, war mir klar, dass wir es nicht tun würden. Wenn der Professor sich nicht beeilte, würden wir die Insel alleine verlassen.
Ohne ihn waren wir sogar noch ein wenig langsamer als zuvor. Das Unterholz knackte unter unseren Gewichten und mit der Zeit wurde mir wieder schwindelig. Die Spannung in der Luft war beinahe greifbar.
„Wir haben keine Nahrung. Und kein Wasser", bemerkte Amelie irgendwann. „Wir haben abgemacht, dass wir etwas besorgen."
„Das schaffen wir nicht", protestierte Jared. „Hör zu, ich will genauso wenig verhungern wie du, aber woher sollen wir jetzt Plastikflaschen bekommen? Oder frisches Wasser? Meinetwegen sammle ein paar Früchte und schmeiß sie ins Boot."

Amelie wollte noch etwas sagen, entschied sich dann offensichtlich dazu zu schweigen. Jared hatte recht. Amelie aber auch. Nur würden wir jetzt zu einem unserer Lager zurückgehen, kämen wir nicht von der Insel runter. Wir waren nicht sicher, doch die Eingeborenen könnten schon in der Nähe sein.
„Ich hole welche", sagte sie und ließ plötzlich das Boot los. Unter dem nun noch schwereren Gewicht, stöhnte ich auf. Jetzt war es kaum mehr möglich, es zu tragen. Vielleicht, wenn ich nicht so erschöpft sein würde, vielleicht wenn ich nicht in den letzten Monaten gehungert hätte. Vielleicht hätte ich es dann erträglicher gefunden.
Amelie schien es jedoch nicht zu interessieren. Hektisch lief sie voraus und pflückte Beeren von Büschen und sammelte irgendwelche anderen Früchte auf, die ich nicht erkennen konnte. All das warf sie achtlos ins Boot und erschwerte es uns somit. Jared ließ sie einige Minuten das tun, was sie wollte, doch dann rief er sie zurück.
„Das reicht jetzt", seufzte er. „Wir brauchen hier mal Hilfe."
„Noch noch ein paar Früchte", rief sie zurück und wurde immer hektischer.
Dann stellte sie sich widerwillig an ihre alte Stelle und packte mit an. Es war zwar keine große Erleichterung, allerdings das war wohl alles, was wir bekamen.

Ob es eine Halluzination war oder nicht, konnte ich im ersten Moment nicht sagen. Doch nach einigen weiteren Minuten konnte ich das Meer hören. Vor Freude hätte ich am liebsten angefangen zu weinen.
„Ist es ...?", fragte Ira.
„Der Strand!", antwortete Jared. Jeder von uns beschleunigte seine Schritte. Fast so, als würden wir alle die letzten Reserven zusammenbringen.
Die leichte Brise streichelte meine erglühten Wangen, als meine Füße anfingen, auf Sand zu laufen.
„Fast geschafft", rief ich leise und fing an zu lachen. Auch die anderen lächelten.
Dann dauerte es nicht lange, bis wir das Boot am Wasser abstellten. Ich seufzte als ich die körperliche Anstrengung überwunden hatte.
„Der Professor ist nicht hier", murmelte Amelie panisch und drehte sich nach allen Seiten hin um. „Er ist nicht hier", wiederholte sie.
„Wir müssen trotzdem los", murmelte Ira sanft und legte Amelie eine Hand auf die Schulter. „Sobald wir irgendwo sind, wo jemand uns helfen kann, schicken wir einen Helikopter auf diese Insel. Das oder irgendetwas anderes."
Ein Helikopter. Wow, das hatte ja beim letzten Mal auch schon so gut geklappt ...
„Das können wir doch nicht tun", erwiderte sie. „Euch haben wir immerhin auch nicht im Stich gelassen!"
„Es ... es war seine Entscheidung", brachte ich ein, obwohl ich wusste, dass sie gewissermaßen im Recht lag. Der Professor hatte uns gebeten, zu warten. Doch wie lange? Vergeudeten wir damit vielleicht unsere letzte Chance?

Ich griff nach Ira's Hand, in der Hoffnung, die Lösung liege dort. Aber das war natürlich völliger Blödsinn. Ich versuchte mich in Amelie's Lage hineinzuversetzen. Sie hatte eine lange Zeit mit dem Professor verbracht und ich verstand sie. Wäre Ira es, der gegangen wäre ... Ich würde nicht ohne ihn gehen. Liebevoll sah ich ihn von der Seite an, rief mich dann aber wieder zur Besinnung. Wir hatten einfach keine Zeit zu verlieren.
„Wir gehen jetzt", sagte ich und begann, das Boot ins Meer zu schieben. Jared und Ira halfen mir dabei.
„Nein." Amelie klang weinerlich und das zerbrach mir das Herz. Ich ließ nicht gerne einen Menschen zurück. Wenn wir könnten, wäre ich auch dafür, dass wir warteten. Aber wenn ich die Wahl hatte, zwischen Warten und vielleicht dadurch gefangen genommen zu werden oder zu gehen und zu überleben, wählte ich die zweite Möglichkeit.
„Entweder du kommst mit oder du bleibst", versuchte Jared es auf die harte Tour. „So geht das nicht", murmelte er uns zu und deutete auf das Boot. „Los, einmal anheben und in die Tiefe damit." Das Wasser war kühl und durchtränkte schon meine Hose, doch für das Boot war es hier zu flach.

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Amelie zurückblickte, doch dann ging sie auf uns zu und half uns, das Boot weiter ins Meer zu tragen.
„Gute Entscheidung", bemerkte Jared. „Die Mädchen zuerst." Er packte Amelie an den Hüften und hob sie ins Boot rein, während Ira mir half. Danach schob Jared ihn von hinten an, bevor er selbst einstieg. Schnell schnappte ich mir eines der Ruder und reichte Jared das Zweite.
Das Wasser schwappte gegen unser Boot und ergab eine schöne Melodie.
Die Melodie der Freiheit.
Und dann, nur Sekunden später, störte etwas diese Melodie und durchbrach sie.
„Hilfe!", schrie jemand. „Hiiiiilfeeee!"
Vier Köpfe schnellten in Richtung Strand.
„Es ist der Professor", kreischte Amelie und zeigte in seine Richtung.
„Verdammt", rief Jared, so laut, dass ich erschrak und zusammenzuckte.
Denn es war nicht nur der Professor, der am Strand stand.

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