27. Kapitel

14 2 0
                                    


Altinterop betrachtete voller Aufmerksamkeit das kleine mit einem roten Rubberband zusammen gebundenen Paket, welches ihm bei der Öffnung der Mailhülse gleich entgegen fiel. Das Päckchen bestand aus einer Anzahl zusammengelegter Zettel. Altinterop fuhr, als wäre es ein Kartenspiel mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite des Päckchens hin und her. Auf Papier gebrachte Notizen - das war sehr ungewöhnlich. Zuerst war er unentschlossen, ob er die Zettel lesen sollte, doch dann siegte seine Neugier. Er setzte sich auf einen Sessel und begann die Zettel auf dem Tisch vor sich auszubreiten. Er studierte die Handschrift und schnell wurde ihm klar, dass es sich hierbei um Botschaften von Esmeraldos an Pixi handelte. Was da vor ihm lag erschien ihn wie ein plötzlicher Schlag ins Gesicht. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Mit voller Wucht drang zu ihm die Erkenntnis durch, dass Pixi nicht nur wegen Little-Anniechen weggezogen war, sondern weil sie Esmeraldos ihm vorgezogen hatte und mit diesem eine intime individualistische Beziehung eingegangen war. Schnell verriegelte Altinterop den Zugang zum Zimmer, versah das Türemblem mit einem roten Stopp-Zeichen - er wollte jetzt unbedingt ungestört sein. Manch ein vorbeigehender Kubujaner rüttelte erstaunt an der geschlossenen Tür des Gemeinschaftsraumes. Dahinter konnte man nur das hektisches Hin- und Hergehen einer Schattensiluette sehen. Eine Reaktion auf diverse Bitten doch zu öffnen, gab es nicht.

Altinterop tigerte wie ein gefangenes Tier in dem Unit vor und zurück. Er konnte den Raum nicht verlassen, denn er war in einem Zustand in dem ihn niemand sehen oder gar ansprechen sollte. So vergingen Stunden. Immer und immer wieder las Altinterop die verstreut vor ihm liegenden Zettel. Einige davon las er sich stockend halblaut immer wieder selbst vor - als könne er es nicht glauben. "Komm heute Nachmittag wieder in die Naturräume zum Naturebrunnen, dort können wir uns endlich wieder sehen - du fehlst mir so. Und habe keine Angst. Wir haben ein Recht auf unsere Gefühle, auch wenn sie stärker sind, als es uns die Gesellschaft erlaubt. Das Leben wäre schließlich nicht lebenswerte, wenn nur das zählt, was logisch und vorgegeben ist. Gerade das Beste liegt jenseits dieser Grenzen. Lass uns uns daran erfreuen." "Du wirst fortgehen. Unmöglich! Du kannst mich doch nicht verlassen. Wir haben uns doch ewige Treue geschworen. Du lässt mich zurück? So entscheidest du dich? Lass es nicht vorbei sein, es gibt sicher noch andere Wege für uns." "Lass mich nach kommen. Wie soll ich hierbleiben ohne dich. Ich bin außer mir. Es darf nicht so enden. Ich liebe dich, nichts soll und kann mich von dir trennen. Das lasse ich nicht zu."

Altinterop hatte die Papierschnippsel gerade weit von sich geschoben als ein Brummen erklang und eine Wall-Message auftauchte. "Öffne die Tür, ich bin es, Wüllerero!" Sofort entriegelte Altinterop den Schließmechanismus. Wüllerero trat ein und sah auf den ersten Blick, dass etwas Heftiges vorgefallen sein musste.

"Hallo Wüllerero. Danke dass du vorbeischaust. Sorry, dass ich dich so eilig hergeordert habe, aber ich wusste selbst nicht mehr weiter. Setz dich doch. Ich erklär dir gleich worum ich dich bitten möchte. Gerade heraus. Ich möchte Selbstjustiz üben. Ich wurde übelst hintergangen. Ich möchte jemand sozial annullieren. Ich brauche jemand, der mir hilft, die soziale Identität desjenigen zu hacken und dann seine Identitätscodes endgültig zu löschen. Ich weiß, du hast die Fähigkeit und auch die Admin-Rechte für so etwas. Wirst du mir helfen?" "Du weißt Altinterop: Einer für alle. Alle für einen. Ganz klar helfe ich dir, aber sag doch erst einmal was überhaupt passiert ist. Und braucht es wirklich so drastische Schritte, reichen nicht auch andere Sanktionen. Missverstehe mich bitte nicht, das heißt nicht "Nein", wie könnte ich einem Mitkubujaner so etwas abschlagen. Aber nun wirklich raus damit, was ist los?" Altinterop seufzte tief auf. Knapp sagte er: "Pixi meine Gen-A-Partnerin ist noch zu unserer gemeinsamen Zeit eine individualistische Liebesbeziehung mit Esmeraldos einem ehemaligen guten Kumpel von mir eingegangen. Eine Bindung, die meines Erachtens jetzt über Jahre weiter bestanden hat". Wüllerero sah Altinterop an: "Altinterop, das ist nicht möglich, das wäre doch aufgefallen." "Es ist mehr als nur möglich, es ist gewiss so. Lies selbst!" Wüllerero las sich einen Zettel nach dem anderen durch. "Die sind also an Pixi gerichtet?" "Ja, ich habe sie heute zufällig beim Umschichten gefunden." "Also eine Liebesbeziehung, die begann als ihr noch zusammen in Gradies 5 lebtet." Altinterop nickte. "Und du hattest die letzten sechs Jahre keinen Kontakt mehr zu deiner Gen-A-Partnerin Pixi?" "Ja". Wüllerero schwieg. Nach einer Weile sagte Altinterop: "es scheint fast so, als ob die sechs oder sieben Jahre einen Eindruck auf dich machen. Aber so kann man das nicht sehen. Was falsch ist, bleibt falsch. Und eine Verjährungsfrist greift hier auch nicht, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden - er verzog verächtlich sein Gesicht - immer noch ein Liebespaar sind." "Ich weiß nicht, Verjährung hin oder her, sind denn deine Gefühle dazu noch aktiv. Kannst du es nicht auf sich beruhen lassen. Es gibt doch keine Anzeigepflicht." "Du sagst das im vollen Ernst?" "Na klar, da geht es doch um viel. Ich weiß, deine Emotions sind disturbed und du bist durcheinander. Aber rechtfertigt diese Emotionalität das Leben aller Beteiligten zu zerstören? Ob Esmeraldos das Ausgestossensein überleben kann, ist mehr als fraglich. Pixi wird für Little-Anniechen sicher ein Trennungsgebot bekommen. Und dann sitzt du da und zu deinem Ärger kommt noch regret hinzu, so in das Leben anderer Mitkubujaner eingegriffen zu haben. Alles dreht sich also um die Frage: muss es wirklich sein? Fühlst du dich wirklich so verletzt, beleidigt, empört und emotionalisiert, dass du dich unbedingt rächen willst. Ist es so?" "Ich weiß es nicht". Altinterop war aufgesprungenund tigerte an der Fensterfront der Suite entlang. Dann wandte er sich wieder Wüllerero zu und sage: "Nein, so ist es nicht!" "Wie ist es dann?" "Es ist so, dass ich innerlich total getroffen bin, mich gekränkt und hintergangen fühle, aber all das ohne Hass- oder Rachegefühle. Ich wundere mich selbst darüber, aber irgendwie habe ich Pixi in den letzten Jahren losgelassen und trauere ihr auch nicht mehr hinterher. Was war, war. Sicher bin ich der Betrogene. Wäre es anders gekommen, hätte ich noch mehr Gen-A-Kinder und alles hätte seinen gesellschaftlich anerkannten Verlauf genommen. Die beiden haben also meinen Lebensweg nachhaltig transformed. Aber ich bin zufrieden mit meinem Leben wie es jetzt ist. Und all die Jahre, die nun dazwischen liegen, lassen alles sehr weit weg erscheinen. Fast ist mir danach keine Konsequenzen zu ziehen und alles unter den Tisch fallen zu lassen." Wüllerero nickte: "Ich kann das inhaltlich gut nachvollziehen Altinterop. Aber wenn es so ist, wenn du sagst, ich lasse sie ziehen, denn alles ist schon so lange her und so weit weg wie das Geschehen in einer anderen Parallelwelt. Ja, wenn es soliegt, warum dann das ganze Exitement?"

"Weil es trotzdem sein muss. Ich habe mir alle Argumente durch den Kopf gehen lassen. Ich kann eine solche Entscheidung nicht nur einzelindividualistisch treffen und bewerten. Ich bin Teil einer gesellschaftlichen Ordnung, die ich bejahe und auf dieses kollektive stützende Wertesystem gilt es zu achten, sind wir mit unserem zerbrechlichen Leben doch abhängiger davon als wir oft meinen. Wäre es möglich abgekoppelt von den Kubuswelten zu leben, so könnte ich es versuchen, aber es würde mich unglücklich machen meine Werte verraten zu haben, nur um zwei Einzelindividuen zu schützen. Sicher werde ich dann als die Person die ich bin Schuld auf mich laden, aber ist es das nicht wert, um unser funktionierendes System zu schützen? Wie ich dann mit dieser Schuld umgehe, ich weiß es nicht, vielleicht werde ich an ihr zerbrechen. Aber hat man als Kubujaner denn ein uneingeschränktes Recht auf persönliches Glücklichsein. Ich denke nein, unserer gesellschaftlichen Grundnormen, die wir uns ursprünglich selbst gesetzt haben, sind dazu da uns als Gesellschaft insgesamt Halt und Sicherheit zu geben. An diesen Grundfesten zu rütteln und diese in Frage zu stellen, ist nicht das, was ich will.Dafür stehe ich nicht, das würde meine Authentizität zerstören. Sorry, dass ich dir so einen Vortrag halte voller Allgemeinplätze. Nur das sind zentrale Faktoren, an denen ich mein Leben orientiere. Also nicht Hass oder dergleichen, führt mich zu meinen Handlungen, sondern die dominierende gesellschaftliche Logik macht es unabdingbar so zu handeln. Und da geht es nicht um Mitleid, nicht um Verzeihen oder Verjährung. Ich habe keine Alternative, ich muss tun, was getan werden muss." "Ich weiß nicht, Altinterop..." Altinterop lächelte: "Oh doch, du weißt Wüllerero, du weißt nur zu gut. Und da du nun mein Mitwisser bist, bist du nun mehr auch meine soziale Kontrollinstanz, die mich bewertet und analysiert. Bevor ich dich hinzugezogen habe, ja da hätte ich heimlich alles auf sich beruhen lassen können. Aber ich war so aufgewühlt, dass ich es jemandem erzählen musste. Im Grund bin ich selbst an dieser verfahrenen Situation schuld. Hätte ich meine Emotions besser im Griff gehabt, hätte ich alles mit mir selbst ausmachen können. Aber das ist nun nicht mehr möglich." "Ach was Altinterop, du weißt doch, ich kann schweigen wie ein Grab und bin vollstens loyal". "Ja Wüllerero, das sagen viele, und selbst, wenn du davon wirklich niemanden etwas weiter erzählst, weißt du selbst doch davon. Und immer, wenn du mich siehst und wir zusammen Politik betreiben, wird du dir denken: Ach ja, der gute Altinterop. Jetzt redet er so groß daher, aber in seinem eigenen Leben war er nicht in der Lage die geltenden gesellschaftlichen Regeln umzusetzen und zu befolgen.""Und ich werde es an deinem Blick erkennen und es wird mich verfolgen und ich werde daran leiden mich falsch entschieden zu haben. Habe ich nicht Recht, Wüllerero?" Wüllerero war aufgestanden. "Es ist furchtbar wie analytisch du die Dinge ausbreitest, aber was du sagst ist durch und durch logisch. Ich finde es furchtbar zu erkennen, dass du Recht hast. Jetzt höre ich auf den Avocadus Diaboli zu spielen. Die Welt ist nun einmal wie sie ist und die Dinge verlaufen nicht so wie wir als Einzelpersonen es wollen, sondern wie die Gesellschaft als Ganzes es braucht. Unsere kulturelle Unterwerfung ist etwas Unmenschliches, dem wir uns unterstellen müssen, solange es unsere Gesellschaft gibt." Altinterop nickte nur zustimmend.

Beide blieben noch eine kurze Zeitspanne zusammen und besprachen dabei genau den Ablauf aller weiterer notwendigen Schritte. Wüllerero sollte bereits heute Nacht den Account von Esmeraldos knacken und morgen dann würde man getrennt nach Exgradies reisen. Beide Männer verabschiedeten sich mit einem kurzem "Na dann Tschüß bis in Exgradies".

Pixi Keith - die Anti-EffiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt