29. Kapitel

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Am Abend desselben Tages war Altinterop wieder zurück im Weltregierungskubus. Die gesamte Rückfahrt über grübelte er über Recht und Unrecht. Über Normen und Werte und deren Einhaltung. Zuerst befand er sich in einem Zustand absoluter Überzeugtheit, das einzig Richtig getan zu haben, aber je länger die Fahrt dauerte, desto überzeugter wurde er eine absolut falsche Entscheidung getroffen zu haben. "Konzepte, alles Konzepte. Schuld, Gesellschaft, Einzelperson, Bedürfnis, Recht, Liebe, Kollektiv, Kultur - alles reine leere Worthülsen. Worthülsen die man erst selbst mit Leben füllen muss. Hätte er sich nicht auf dumm stellen können, so tun können, als ob er von nichts wüsste. Wem hätte das wirklich geschadet. Und jetzt, da bin ich mir ganz sicher, habe ich vielen Kubujanern geschadet. Und wofür? Aus Rechthaberei? Aus falsch verstandener gesellschaftlicher Loyalität? Wer hatte diese überhaupt eingefordert - doch nur mein eigenes Gewissen. Die Grenze, die es zu sichern galt, wo war sie, war sie wirklich so überschritten worden, dass es für die Gesellschaft an sich gefährlich werden konnte? Wie konnte Lieben überhaupt eine Gesellschaft gefährden? Wenn ich mir Esmeraldos letzten Blick vor Augen führe, resigniert und in seinem Elend doch noch ein freundliches Lächeln im Gesicht, so kann dieser Blick nur gemeint haben: Altinterop, alter Erzieher und Prinzipienreiter. Du hättest uns dies alles ersparen können. Und er hatte Recht. Ja, wenn ich voll tödlichen Hasses gewesen wäre oder aus blinder Rache heraus gehandelt hätte - das wäre menschlich gewesen und dadurch ein Stück nachvollziehbar. So aber habe ich schlicht nach Konzepten und Vorstellungen gehandelt, die mir von Kindheit an implementiert wurden. Und dafür stürze ich Esmeraldos ins Elend, wenn nicht gar in seinen sicheren Tod, dort draußen in der unberechenbaren Natur, so ganz ohne Ausrüstung und Unterstützung ist er den Naturgewalten ausgeliefert. Er wird sehr wahrscheinlich elendig sterben und ich bin die Ursache dafür - auch ohne Blut an meinen Händen - nur durch einen einzigen sauberen Tastendruck. Und es wird noch weitergehen. Wird auch Pixis Leben zerstören, das Trennungsgebot für Little-Anniechen ist bereits formuliert und abgeschickt. War es das alles wert? Ich hätte einfach alles auf sich beruhen lassen sollen, denn wie ich nun mit den entstandenen Konsequenzen leben soll, das weiß ich nicht. Dafür weiß ich jetzt, was individuelle Schuld ist".

Als Altinterop wieder im Weltregierungskubus ankam, traf er auf niemanden, dafür war es zu spät abends, alle hatte sich schon zurückgezogen. Altinterop orderte noch einen Night-relax-Tea, aber wirklich ruhiger machte auch dieser ihn nicht. "Sie wissen es schon alle. Und auch wenn sie nichts genaues wissen werden, werden sie es sich zusammenreimen. Und morgen ist es Teil der Kubuskommunikation und jeder wird so intensiv darüber diskutieren, als wäre er mit dabei gewesen".

Tatsächlich aber, sprach Altinterop niemand auf die Geschehnisse an. Es breitete sich ein Mantel des Schweigens darüber. Er musste sich nirgendst rechtfertigen oder erklären. Seine Handlungen wurden hingenommen, ob man diese gut fand, seine Wertehaltung teilte oder nicht, darüber erhielt er keinerlei Rückmeldung. Einzig Wüllerero schickte ihm noch eine Message, in der er ihm beschrieb, was nach seiner Abreise in Exgradies passiert war. "Reaktion von Lubujanka war wie vorhergesehen hoch emotional. Sie weinte und schimpfte auf dich, auf die Gesellschaft. Sie war so authentisch, es war erschreckend. Und dann erst die Reaktion von Esmeraldos Gen-A-Partnerin. Nach außen hin blieb sie starr, aber innerlich brach sie zusammen. Sie schickte mich sofort weg und wollte nichts hören, kein Mitgefühl, keine Worte über Entschädigungsausgleich Sie warf mich einfach raus." Altinterop war ganz erschüttert als er diese Message von Wüllerero gelesen hatte.

Im Zentralkubus waren die Behörden aktiviert worden. Mandreaka und Rosalinde erhielten die Nachricht, dass Pixi nicht mehr zurückkommen werde. Little-Anniechen sei ab nächste Woche ganz ins Elyseum zu verbringen - die Sonderregelung sei erloschen. Beide sowohl Mandreaka als auch, falls man davon sprechen kann, Rosalinde waren mehr als entsetzt. Nach und nach erfuhren sie über diverse Kanäle was geschehen war. Das Erzeugen einer Un-Person war in allen Kuben das zentrale Thema. "Ich wusste doch, das es mal rauskommt und jemand Anstoß daran nimmt. War alles nur eine Frage der Zeit. Eher ein Wunder, das es so die Jahre hinweg unbeanstandet geblieben ist". "Stell dir vor, was im News-Blatt steht: Kulturzersetzendes Handeln unterbunden. Vor den Augen der Gesellschaft unterhielten zwei Kubujaner langjährig eine einzelindividualistische Beziehung. Dieser Regelbruch führte zur Löschung der Persönlichkeitskarte des männlichen Kubujaners. Die weibliche Kubujanerin wird in einen anderen Kubus strafversetzt". "Oh wie kalt und sachlich das klingt, keine Spur der Beweggründe der Beteiligten ist zu lesen.Oberflächliches bürokratisches Suggestions-geschwätz. Und wie entpersonalsierend das klingt. Löschung der Persönlichkeitskarte, das heißt doch im Klartext, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Esmeraldos bereits tot ist, wenn er nicht gerade am Verhungern oder Verdursten ist. Wie schrecklich." "Jetzt hat es Jahre keinen gestört und dann das. Das sich jetzt Altinterop nach all den Jahren so rächt verstehe ich nicht. Für ihn ist es doch schon so lange her. Und selbst, wenn ihm erst jetzt klar geworden ist, wie alles zusammenhängt, gab es für ihn keinen verstehbaren Grund jetzt so strikt zu handeln". "Du bist halt doch ein Roboter und verstehst das nicht. Und im Grunde bist du Schuld, hättest halt auf das Gepäckstück von Pixi besser aufgepasst und es nicht verkehrt eingeordnet. Dann wäre Altinterop nie auf die Idee gekommen, dass Pixi und Esmeraldos ein Liebespaar sind." "Schuld? Kann eine Maschine schuldig sein? Es tut mir leid, wie die Dinge gelaufen sind, aber auf manches hat man keinen logischen Einfluss. Dinge geschehen und Kubujaner handeln." "Und Schuld ist letztendlich auch Esmeraldos selbst, er hätte sich besser kontrollieren müssen. Jetzt hat er viele in Unglück gestürzt - sich, Pixi, seine Gen-A-Partnerin und indirekt auch Altinterop und auch er hatte eine Wahl." "Das weiß ich, aber warum ungefährliche Alternativen von der kubujanischen Gesellschaft ausgeschlossen werden ist mir unverständlich. Wer soll von so etwas profitieren, das ist doch keine Win-Win-Situation sondern eine absolute Loose-Loose Konstellation." "Es ist schrecklich, dass sich so was immer wiederholen muss. Ich denke da nur an Svenjakas Schicksal. Die Gesellschaft frisst ihre eigenen Kindern. Gnadenlos. Gefühllos. Gesetzte Prinzipien werden verfolgt ohne Rücksicht auf das Leid der Einzelperson - das Svenjaka nicht mal wissen darf, wo ihr Kind ist, ob es noch lebt, ob es ihm gut geht. Wie grausam ist das denn?" "Manchmal versteh auch ich unsere Gesellschaft nicht, aber speichere das bitte nicht ab, dass ist intern zwischen uns gesagt. Und die arme Pixi, ist doch erst 26 Jahr und steht vor dem Trümmerhaufen ihrer Existenz. Ob sie damit leben kann Esmeraldos und Little-Anniechen zu verlieren. Ein paar Jahre älter wäre sie vielleicht stabiler und lebenserprobter und könnte die Geschehnisse mit größerer Reife auf sich nehmen, aber so... Und noch dazu wird jetzt jeder sie schneiden und den Kontakt zu ihr meiden, sie wird eine Ausgestoßene innerhalb der Kubusgrenzen sein." "Ich versteh das alles nicht. Gefühle scheinen für kubujanische Verhältnisse etwas äußerst Mächtiges zu sein. Oder warum sanktioniert und unterbindet die Gesellschaft Liebesgefühle so rigoros?" "Da sind wir ganz einer Meinung, aber jetzt atmen wir mal tief durch, den ändern können wir kleinen Rädchen am System doch eh nichts".

Pixi Keith - die Anti-EffiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt