Angie blinzelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Alles, was sie sah, war helles Licht. Ihre Augen brauchten einige Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Es war, als würde sie schweben. Schweben in Licht. War sie vielleicht tot? Sah so das Ende eines jeden Menschen aus? Würde Angie jetzt im Himmel oder sonst wo landen oder einfach nur das Bewusstsein verlieren und alles war vorbei? Würde sie etwa ihren Vater und ihre Schwester wiedersehen?
"Angie?"
Auf einmal verwandelte sich eine Stelle in dieser endlosen Helligkeit dunkel. Überrascht sah Angie dahin und erkannte, wie sich das schwarz in eine Art Schatten verwandelte und sich verformte. Was war das? Die blonde Frau versuchte darauf zuzulaufen, war ganz gebannt von diesem Spiel aus Hell und Dunkel. Seltsamerweise kam sie nicht voran. Sie konnte sich nicht bewegen.
"Angie, wach auf. Bitte!"
Die Stimme kam Angie so wahnsinnig vertraut vor und doch erklang sie von zu großer Entfernung, als dass sie wusste, wer hier sprach und wovon. Sie erkannte allerdings, dass die Stimme zu dem Schatten gehörte, der sich langsam aber sicher in den Umriss einer Person verwandelte.
"Ich hab doch gesehen und gespürt, wie dein Finger gezuckt hat. Komm schon, Angie. Du bist stark, du schaffst das. Mach einfach die Augen auf!"
Die mysteriöse Stimme wurde immer deutlicher und passend zum Umriss dieser Person vor ihr, erkannte Angie endlich, wer das war. Germán. Germán sprach zu ihr! In diesem Moment wurde es Angie klar. Sie hatten einen Unfall gehabt. Sie musste zurück in die Wirklichkeit, wieder das Bewusstsein erlangen. Sie musste zurück zu Germán! Und zu Julieta und Vilu! Sie musste leben! Angie machte den Mund auf, um sich bei ihrem Ehemann zu melden, ihm zu sagen, dass sie ihn hören konnte. Es kam kein Laut aus ihrer Kehle.
"Bitte, Ángeles. Ich brauche dich doch! Ich schaffe das nicht allein, nicht noch einmal. Bitte."
Die blonde Frau hörte, wie rau und brüchig seine Stimme klang. Sie sah förmlich vor sich, wie Germán neben ihr angefangen hatte zu weinen. Eine plötzliche Panik überkam sie. Sie musste aufwachen! Sie musste zu Germán, ihm zeigen, dass sie lebte, dass es nicht vorbei war. Aber was, wenn sie es nicht schaffte? Angie streckte verzweifelt eine Hand nach dem Schatten aus. Er war in unmittelbarer Nähe und doch so unerreichbar.
Plötzlich fiel es Angie wie Schuppen von den Augen. Sie konnte einen Arm ausstrecken! Dann sollte es doch auch möglich zu sein, sich gänzlich zu bewegen und Schritte zu machen!
"Ich liebe dich, Angie. Ich liebe dich mehr als alles und jeden auf dieser Welt. Und jetzt wach verdammt nochmal auf und lass mich in deine wunderschönen blauen Augen schauen!"
Die Worte gaben Angie Kraft. Ganz, ganz langsam und mit höchster Anstrengung schaffte sie es, ihr rechtes Bein minimal anzuheben und es ein Stück weit nach vorne zu setzten. Es klappte! Angie konnte und würde es schaffen! Sie lief. Stück für Stück, Schritt für Schritt lief sie weiter. Ihre Beinen wogen gefühlte Tonnen und schienen aus Blei zu bestehen, doch es hinderte die blonde Frau nicht am Vorwärtskommen.
"Bitte, Angie."
"Ich komme, Germán. Ich hab's gleich geschafft!" Diese Wörter murmelnd, machte Angie den letzten anstrengenden Schritt und stand nun endlich vor dem Schatten, der die Körperform ihres Schwagers angenommen hatte. Ganz vorsichtig streckte sie erneut die Hand aus und griff in den dunklen Umriss hinein. Plötzlich erfüllte ihre Haut ein warmes Kribbeln und von dem Schatten ging ein Ziehen aus. Als würde Germán ihre Hand halten und sie zu sich holen wollen. Angie leistete sofort Folge und trat erneut nach vorne, um in den dunklen Fleck einzutauchen...
"Angie!"
Kaum, dass die junge Frau ihre Augen ein wenig geöffnet hatte, sah sie Germáns Gesicht vor sich, welches sich in Sekundenbruchteilen in ein großes Strahlen verwandelte. "Du lebst, Angie. Du lebst!", flüsterte er. Es traten Tränen in seine Augen, die augenblicklich über seine ohnehin noch feuchten Wangen liefen. Germán war das herzlich egal. Er hatte seine Angie wieder!
Angie hob langsam einen zitternden Arm hoch -ihr Körper schien ihr noch nicht ganz zu gehorchen- und legte ihre Hand auf seine Wange. "Ja, ich lebe." Auch ihre Stimme brachte nicht mehr als ein heiseres Flüstern hervor. Germán lächelte sie liebevoll an und legte seine Hand auf die ihre. Er strich mit seinem Daumen leicht über ihre Haut, das kleine Kabel, welches an ihrem Arm entlangging und an ihrem Handrücken festgemacht wurde, ignorierend.
Germán beugte sich nach unten und legte seine Lippen ganz sachte auf ihre. Angie schloss entspannt die Augen und erwiderte den zärtlichen Kuss. Seine warmen, weichen Lippen zeigten ihr deutlich, dass sie wieder lebendig war. Als Germán sich langsam von ihr löste, konnte er neue aufkommende Tränen nicht unterdrücken. Angie versuchte so gut es ging das salzige Nass wegzuwischen. "Ich bin so froh. So froh." Germán küsste sie auf die Wange, bevor er sich etwas mehr zurückzog und wieder auf den Stuhl neben ihrem Bett saß.
Ach ja, wo war sie denn eigentlich? Angie drehte leicht den Kopf und sah sich im Raum um, während ihr Kopf heftig zu pochen anfing. Sie war offensichtlich im Krankenhaus, was nicht weiter verwunderlich war. Die blonde Frau wandte den Blick wieder zu Germán und dieser schien die unausgesprochenen Fragen, die sie hatte, zu bemerken. "Du wurdest vor zwei Tagen angefahren. Der Fahrer des LKWs war eingeschlafen, wie es leider häufiger vorkommt." Angie konnte erkennen, wie er bei dieser Erinnerung die Zähne fest aufeinanderpresste.
"Du wurdest sofort ins Krankenhaus gebracht und operiert. Äußerlich verletzt hast du dich noch nicht einmal so arg, doch die Ärzte haben innere Blutungen festgestellt. Die Operation verlief zum Glück gut, doch die eigentliche Herausforderung war, dass du wieder aufwachst. Das bist du endlich." Germán lächelte wie ein Verrückter und Angie griff nach einem seiner Hände, um sie mit ihrer zu verschließen. Angie konnte sich nur im Ansatz vorstellen, welche Angst und welches Leid ihr Ehemann in diesen achtundvierzig Stunden erlitten haben musste. "Sonst hast du natürlich trotzdem noch ein paar äußere Verletzungen. Gehirnerschütterung, unzählige Schürfwunden und einen Rippenbruch sowie zwei geprellte Rippen. Bewegungen könnten die nächsten Tage daher wehtun."
"Ich glaube, damit komme ich klar.", meinte Angie zuversichtlich und drückte einmal Germáns Hand. Dieser lachte leise auf und die blonde Frau hätte bei diesem schönen Klang vor Freude springen können. Es tat so gut ihren Schwager wiederzuhaben, auch wenn sie diejenige war, die die ganze Zeit über ohne Bewusstsein gewesen war. "Ja, du lebst und dir geht es soweit gut. Das ist die Hauptsache.", pflichtete Germán bei. "Du glaubst gar nicht, wie sehr du mir gefehlt hast." Seine Augen schienen von innen heraus zu leuchten und unterstrichen Gesagtes so nur noch mehr.
Bevor Angie jedoch etwas erwidern konnte, klopfte es plötzlich an der Tür und ein Arzt, gefolgt von zwei Krankenschwestern, betrat den Raum. "Señora Castillo, Sie sind aufgewacht. Sehr schön.", stellte der Arzt freundlich fest und schritt zu ihr ans Bett. "Ich bin Señor Sánchez, einer Ihrer operierenden Ärzte." Angie nickte und sah dem jungen Mann in die grüngrauen Augen. "Freut mich, Sie kennenzulernen."
Der Arzt warf den Schwestern einen Blick zu, die nun ebenfalls an das Bett gelaufen kamen. "Señor Castillo, Señora Castillo, der Unfall hat bedauerlicherweise noch eine andere Folge mit sich gezogen, die wir Ihnen erst mitteilen wollten, wenn Sie wieder das Bewusstsein erlangt haben.", begann Señor Sánchez mit Blick auf Angie. Seine Stimme klang ernst und Angie spannte sich unwillkürlich an. Auch Germáns Händedruck wurde fester. "Es tut mir schrecklich leid, Ihnen diese fürchterliche Nachricht überbringen zu müssen und das so kurz nach dem Erwachen, doch wir wollen Ihnen die Wahrheit nicht länger vorenthalten." Doktor Sánchez hielt inne und ließ seine Augen von Angie zu Germán und wieder zurück wandern.
Der nun folgende Satz war die Einleitung in die Tragödie, die ihr Leben in Zukunft sein sollte und zeigte, wie grausam die Welt doch war. Als hätte Angie mit dem Tod ihres Vaters und María noch nicht genug Leid ertragen müssen. Nein, das, was sich die nächsten Monate anbahnen würde, hatte niemand erahnen können...
Die Nachricht riss Angie den Boden unter den Füßen weg und sie konnte ihr Herz zerbrechen hören. Es war, als würde ihr jemand mit voller Wucht in den Magen boxen, sodass ihr die Luft wegblieb, während eine unbegreifliche Leere von ihr Besitz ergriff: "Ihr Baby hat den Unfall nicht überlebt. Sie hatten eine Fehlgeburt."
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Germangie - Just a Dream
FanfictionAngie und Germán haben es endlich geschafft, zueinander zu finden und sind verheiratet. Beide sind wunschlos glücklich und könnten sich ihr Leben nicht besser erträumen lassen. Das Schicksal macht ihrem Glück jedoch einen Strich durch die Rechnung u...