Im Studio

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Zwei Tage später war das Wochenende sowie die intensive, gemeinsame Zeit mit Julieta erst einmal vorbei. Es war Montag und Angie arbeitete halbtags im Studio, weswegen sie sich gerade dort anstatt daheim bei ihrem Mann und ihrer Tochter befand.

Ihre vorletzte Unterrichtsstunde hatte vor wenigen Minuten geendet. Ihre nächsten Schüler würden erst in knapp zwanzig Minuten eintreffen, wodurch Angie aktuell eine kleine Pause hatte. So stand sie nun in ihrem Klassenzimmer und begann die Partituren für die nächste Stunde zu sortieren, während sie eine Tasse heißen Tee trank und leise vor sich hin summte.

Bereits wenige Sekunden später wusste Angie allerdings, dass aus ihrem Vorhaben wohl nichts mehr werden würde, da eine ihr nur allzu bekannte Stimme ihren Namen rief: "Hallo, Angie!" Ihre Nichte schlenderte bestens gelaunt in den Raum hinein und wurde von der blonden Frau sogleich herzlich in den Arm genommen. "Vilu, schön dich zu sehen! Was machst du denn hier?" Grinsend löste sich die Jüngere wieder aus der Umarmung: "Da meine Lieblingstante seit mehreren Tagen verschollen zu sein scheint und ich später selbst noch einen Termin habe, dachte ich, ich schaue, ob sie sich wenigstens hier noch blicken lässt."

Angie boxte ihr spielerisch in die Seite. "Nur weil wir mehrere Tage nicht miteinander gesprochen haben, musst du doch nicht gleich eine Vermisstenanzeige aufgeben.", lachte sie. "Ich lebe, wie sich nur unschwer erkennen lässt." "Ja, das sehe ich.", bestätigte Vilu, offenbar leicht überrascht ihre Tante so positiv gestimmt zu sehen, "Aber mal ehrlich: Was habt ihr alle über das Wochenende gemacht? Ich bin doch sonst immer bei euch gewesen, um mit Jul zu spielen, und dieses Mal nichts. Keine Nachricht, kein Anruf, kein gar nichts."

Auf diese Aussage hin versteifte sich Angie kurz und sah schuldbewusst zu Boden, bevor sie sich letztendlich wieder fing und den Blick hob. Dass Violetta in letzter Zeit so oft bei ihnen war, auch wenn diese Tatsache natürlich nichts schlechtes an sich hatte, war Angies Schuld. Da sie sich wochenlang in ihrem Zimmer abgeschottet hatte und Germán unmöglich vierundzwanzig Stunden die Woche für Julieta da sein konnte, war Violetta häufig vorbeigekommen, um zu helfen... Angie würde sich davon jetzt allerdings nicht unterkriegen lassen! Sie hatte nun einmal ihre Zeit gebraucht und alle hatten es verstanden!

Umso besser, dass es nun anders war und sehr zufrieden mit sich selbst verkündete Angie: "Ich habe am Wochenende endlich den Mut aufgebracht, wieder vollkommen am Leben teilzunehmen und meine Mutterrolle wiederaufzunehmen. Ich habe mich bei Jul entschuldigt, ihr alles erklärt und versichert, dass ich von jetzt an endlich wieder für sie da sein kann und werde."

Die blonde Frau konnte bei dem Gedanken an das Gespräch, an ihre unglaubliche Tochter, nur leicht den Kopf schütteln. Es war wieder alles in Ordnung zwischen ihnen und das war auch höchste Zeit! "Daraufhin haben wir zu dritt viel unternommen, die gemeinsame Zeit genutzt, waren gestern zum Beispiel den ganzen Tag draußen und haben gepicknickt. Deshalb hast du nichts von uns gehört.", erzählte Angie zu Ende und befand sich bereits im nächsten Moment erneut in einer innigen Umarmung mit Violetta. "Du glaubst gar nicht, wie sehr mich es freut, das zu hören!" Sie umklammerte ihre Tante in ihrer Euphorie so fest sie konnte.

"Ich habe mich vorhin, ehrlich gesagt, schon gewundert, warum du plötzlich wieder so strahlst, aber das erklärt natürlich alles! Ich bin so froh!" "Ich auch, Vilu, glaub mir, aber im Moment wäre ich noch glücklicher, wenn du mich nicht erdrücken würdest.", lachte Angie, woraufhin sie wieder losgelassen wurde.

"Tut mir leid.", entschuldigte sich Violetta grinsend, wurde jedoch sofort wieder ernster, "Dann erzähl mir, Angie, wie geht es dir? Wie geht es dir wirklich? Ich meine, auch wenn es dir besser geht, kannst du mit dem Thema doch unmöglich schon abgeschlossen haben, oder?" Angie ergriff lächelnd die Hand ihrer Nichte. Sie war gerührt, wie liebevoll sich Violetta um sie kümmerte und sorgte. Sie war eine der wenigen Personen, denen Angie nichts vorspielen konnte, die sie immer sofort durchschaute. Diese Tatsache bestärkte nur, wie eng und stark ihr Verhältnis war!

"Also nach diesen ganzen schrecklichen Wochen, hab ich seit dem Wochenende endlich das Gefühl, dass ich nicht mehr lüge, wenn ich sage, dass es mir gut geht.", begann Angie und versuchte Violetta an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben zu lassen, "Es war eine verdammt schwere Zeit, ich hatte die Hoffnung oft beinahe ganz verloren und ich weiß, dass mir auch noch eine schwierige Zeit mit mehreren erneuten Rückschlägen bevorsteht. Trotzdem würde ich mittlerweile wagen zu behaupten, dass ich die schlimmste Zeit überstanden habe."

Violetta blickte sie aus ihren braunen Augen aufmerksam an. Zum ersten Mal hatte die blonde Frau das Gefühl, ihre Gedankengänge einigermaßen ordnen zu können. "Ich habe mich mit den Geschehnissen, so gut es eben geht, abgefunden. Ich kann es aussprechen, ohne in ein tiefes Loch zurückzufallen: Ich hatte eine Fehlgeburt. Ich habe mein ungeborenes Kind verloren." Angie holte tief Luft. Sie konnte ihrer Nichte alles erzählen, ihr alles anvertrauen. Vilu war für sie da, hörte ihr zu und stand ihr bei. Immer. "Ich finde es manchmal selbst komisch, warum es so schlimm für mich ist. Ich meine, natürlich war es mein Kind, aber es war noch nicht geboren, ich habe es eigentlich nicht gekannt."

Sie machte eine kleine Pause, das Thema ging ihr nichtsdestotrotz sehr nahe und das würde es vermutlich auch immer. Aber Angie wollte nicht wieder weinen. Das hatte sie in letzter Zeit zur Genüge getan. "Ein ungeborenes Kind zu verlieren, die ganzen Emotionen, die damit verbunden sind, kann nur eine Mutter, welcher genau das passiert, nachempfinden. Ich habe schon so oft versucht, es Germán begreiflich zu machen, aber es geht einfach nicht."

Violettas Daumen strich sanft über den Handrücken ihrer Tante. "Papá tut sein Bestes, nicht wahr?" Angie musste bei dieser Erwähnung augenblicklich lächeln. "Die Schwierigkeit war die ganzen Wochen über, dass er nicht richtig mitfühlen konnte. Als Mann hat er sich während der Schwangerschaft noch nicht so stark als Vater dieses Kindes gefühlt, wie ich als Mutter. Auch wenn er es nur selten zugibt, macht ihm diese Tatsache schwer zu schaffen." Angie blinzelte mehrere Male und spürte, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten. Na toll! Sie schaffte es, über ihr totes Kind zu sprechen, aber bei ihrem Ehemann wurde sie sentimental!

"Er hat das aber immer gut weggesteckt. Germán war immer für mich da, hat mich immer verstanden und unterstützt. Und das wird er auch weiterhin tun!" Angies Stimme wurde ganz sanft: "Er hat für mich wirklich alles Menschenmögliche getan. Dein Vater ist unglaublich toll!"

Die blonde Frau drückte die Hände ihrer Nichte einmal fest und schenkte ihr ein breites, ehrliches Lächeln: "Um auf deine Frage zurückzukommen: Mir geht es endlich wieder gut und auch wenn es noch lange nicht vorbei und abgeschlossen ist, trete ich der Zukunft hoffnungsvoll entgegen. Ich weiß, ich kann es schaffen. Ich kann es zusammen mit Germán, Julieta und dir, Vilu, schaffen!"

Germangie - Just a DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt