Ein schöner Frühlingsmorgen mitten in der Woche, die Sonne schien fröhlich vom strahlend blauen und wolkenlosen Himmel herab. Die Straßen waren voller PKWs und LKWs und öffentlichen Verkehrsmitteln; Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit oder in die Schule oder waren unterwegs, zum irgendwelche Termine wahrzunehmen bzw. um Besorgungen zu machen. Im Klinikum der Stadt spielte sich jedoch in einem Krankenzimmer ein Szenario ab, welches alles andere als schön sein sollte.
Denn Hildegard Brown geb. Grätzer, stolze 93 Jahre alt, lag im Sterben. Um sie herum hatten sich ihre 5 Kinder (3 Söhne, 2 Töchter) sowie 2 der 5 Enkelkinder versammelt, um ihrer Mutter bzw. Großmutter die letzte Ehre zu erweisen.
Bis vor wenigen Tagen hatte die Rentnerin noch selbstständig in dem Haus gewohnt, welchen sie auch ihre beiden jüngsten Kinder groß gezogen hatte. Auch nach dem Tod ihres Mannes nach über 60 Ehejahren vor 4 Jahren verstorben war blieb Hildegard Brown dort wohnen. Einem generellen Umzug in ein Pflegeheim lehnte sie vehement ab.
Auch nachdem sie sich durch einen Sturz auf der Treppe eine Fraktur des Oberschenkelhals zu gezogen hatte sowie nach einem Herzinfarkt (beide Mal kam eines ihrer Kinder nur durch Zufall rechtzeitig vorbei) kam dies sie nicht in Frage. Ihr Wunsch, dort zu sterben, wo sie zu Hause war; dieser Wunsch war trotz des zunehmenden und altersbedingten Gebrechen ungebrochen. Erst nach langem Gesprächen und viel Geduld ihrer Kinder stimmte Hildegard Brown zu, dass Pflegedienst regelmäßig zu ihr kam und sich um sie kümmerte - ihre jüngere Tochter (die einzige, die am Ende noch in Deutschland lebte) konnte auch nicht 24 h für sie da sein. Aber dank diesem Kompromiss waren alle zufrieden und Hildegard konnte an jenem Ort sterben,wo sie umgeben war von all jenen Dingen, die auf irgendeine Art und Weise ihr Leben erzählten. Ein Leben, das wohl bemerkt neben so vielen schönen und positiven Erinnerungen leider auch einige tragische Seiten aufwies.
Denn Hildegard Brown hatte es erleben müssen, wie die Nazis mit Adolf Hilter an der Spitze am 30.1.1933 die Macht an sich rissen und ganz Deutschland unter ihrer subtilen Tyrannei nach und nach im Dunklen versank - damals war sie etwa 12 Jahre alt gewesen. Sie hatte erleben müssen, wie die ganze Welt von einem brutalen und letztlich sinnlosen Krieg beherrscht und ins Chaos gestürzt wurde.
Ihr Vater und ihre beiden Onkels "wurden" gezwungen, an die Front zu gehen; später folgten ihnen auch Hildegards Brüder nach und nach in den Krieg. Zurückkehrten am Ende nur zwei ihrer Brüder, der eine hatte drei Finger und das rechte Bein verloren, nachdem er auf eine Mine getreten war. Der zweite Bruder war zwar körperlich unverletzt geblieben, aber psychisch wie seelisch so stark gebrochen, dass er nur wenige Monate nach seiner Rückkehr Selbstmord beging. Ihr verkrüppelte Bruder lebte auch nicht lange, starb jedoch eines natürlichen Todes. Ihre Mutter wurde angesichts der großen Verlustes ihres Mannes, ihrer beiden Schwagern und vor allem ihrer Söhne so traurig, dass sie mehr oder weniger auch die Lust am Leben verlor - obwohl Hildegard Brown alles versuchte, damit ihre Mutter über den Verlust doch noch hinweg kam und wieder anfing zu leben.
All das hatte die 93-Jährige wie durch ein Wunder überlebt (auch wenn sie durch den Krieg bzw. in dessen Folge fast ihre gesamte Familie verloren hatte) und nach Kriegsende unter jenen Soldaten, die im amerikanischen Sektor des geteilten Berlins stationiert wurden, ihren Ehegatten gefunden.
Freilich, der Umgang mit den Deutschen waren den amerikanischen Soldaten eigentlich verboten gewesen, aber daran hielten sich beide Seiten nicht wirklich. Und kaum hatte der junge Soldat John E. Brown die hübsche Hildegard gesehen, war er sofort in sie verliebt gewesen. Sie verließen Deutschland schließlich zusammen und ließen in John's Heimat, Madison in Wisconsin, nieder. Dort heirateten sie und bekam ihre ersten beiden Söhne Brian und Andrew.
Nur leider waren die Wunden noch sehr frisch und so kam es zwischen der Familie Brown und einigen Nachbarn zu mehreren Auseinandersetzung, da diese Amerikaner sich beharrlich weigerten eine Deutsche plötzlich als ihresgleichen zu akzeptieren. Letztlich sahen sich Hildegard und ihr Mann John am Ende gezwungen mit ihren beiden Söhnen in eine Kleinstadt in Ohio umzuziehen - dort kam dann auch ihre Tochter Aubrey zur Welt. In ihrer neuen Nachbarschaft waren die Amerikaner zwar allgemein tolerant und sehr freundlich; doch irgendwann spürte Hildegard, wie sie sich nach ihrer eigenen Heimat zurücksehnte.
Und nachdem ihr Mann dann auch noch seinen Job verlor, weil sein Arbeitgeber pleite ging, zog es die Familie Brown mit ihren Söhnen und ihrer Tochter sowie einer Neugeborenen wieder nach Deutschland; wo dann (kaum ein Jahr später ) überraschend Matthew, der jüngste Sohn, geboren wurde.
Ja, man konnte wohl durchaus sagen, dass Hildegard Brown ein sehr bewegtes und wechselhaftes Leben hatte; aber wann immer man sie darauf ansprach, so äußerte sie stets: "Ich bin zufrieden mit dem was ich erlebt habe, denn hat es mich weiser gemacht!" Doch Heute sollte ihr Leben innerhalb der nächsten Stunden für immer enden.
Vor einigen Tagen hatte ihre Tochter Emily sie in ihrem Wohnzimmer liegend vorgefunden; gerade noch rechtzeitig wie sich im Nachhinein rausstellte, denn Hildegard Brown hatte einen weiteren Herzinfarkt erlitten. Zwar wachte sie im Krankenhaus wieder auf, aber das Herz hatte dennoch beträchtlichen Schaden genommen - dementsprechend fiel auch die Prognose der Ärzte aus, dass sie nur noch wenige Tage vielleicht ein paar Wochen haben werde. Und Angesichts des Alters von immerhin stolzen 93 Jahren riet man davon ab, den eigentlich dringend notwendigen operativen Eingriff vor zu nehmen.
Nach einigen nahezu schlaflosen Nächsten wie auch nach mehrmaligen Telefonaten mit ihren Geschwister fällte ihre Tochter die schwere Entscheidung, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr für ihre Mutter mehr getroffen werden sollten.
Hildegard Brown öffnete noch mal die Augen, blickte Ihre Kinder und die beiden Enkelkinder um sich herum an und sagte mit schwacher Stimme: "Ich bin so stolz auf euch alle." Dann schloss sie Augen, seufzte noch einmal und wurde dann vollkommen still. Ihr ältester Sohn fühlte nach einigen Minuten den Puls und da er keinen mehr feststellen konnte, war es gewiss ... Ihr Mutter war verstorben!
Nach und nach traten ihre Angehörige vor, um sich zu verabschieden. "Ruhe in Frieden, Mutter!" sagte ihre Tochter Emily und drückte ihr einen letzten Kuss auf die Stirn.
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Auf den Spuren meiner Mutter
Historical FictionHildegard Brown hat die Tyrannei des Nazi-Regimes sowie auch den zweiten Weltkrieg überlebt. Nun ist sie im Beisein ihrer 5 Kinder friedlich entschlafen. Bei der Auflösung des Haushaltes, um das Haus der verblichenen Mutter zu verkaufen, entdeckt ei...