Es war ein komisches Gefühl, plötzlich wieder dieses Haus zu betreten. Denn auch wenn sie und ihre Familie nicht schon immer hier gelebt hatten, so verband Emily Sommer geb. Brown mit diesem Ort die meisten und auch die schönsten Erinnerungen ihr Kindheit und Jugend. Und all das brach wie eine riesige Tsunamiwelle in ihrer Gedankenwelt über sie hinein.
Erinnerungen daran, wie ihre Brüder durchs ganze Haus tobten oder ihren Eltern Streiche spielten während Emily und ihre große Schwester Aubrey sich kaputt lachten. Die 53-Jährige erinnerte sich daran, wie sie und ihre Schwester Verkleiden mit den Sachen ihrer Mutter spielten oder im Wohnzimmer Teepartys mit ihren Puppen machten - einmal hatte ihr ältester Bruder Emilys Lieblingspuppe geklaut und kaputt gemacht. Sie war darauf hin weinend zu ihrer Mutter gerannt, um ihr das zu petzen, daraufhin bekam ihr Bruder ein paar kräftige Schläge auf den Hintern sowie eine Woche Fernsehverbot zur Strafe - ihre Mutter war immer sehr streng gewesen.
Aber auch viele andere Erinnerungen gingen der 52-Jährigen jetzt durch den Kopf, wie z.B. der Tag an dem sie ihren ersten festen Freund mit nach Hause brachte, dieser sie im Wohnzimmer küsste und sie dann Monatelang deswegen von ihren Brüdern aufgezogen wurde. Die Stimme ihres Mannes, Maximilian Sommer, riss sie plötzlich aus ihren Gedanken.
"Alles in Ordnung, Schatz?" fragte er und klang dabei besorgt. Emily drehte sich zu ihm um, wischte sie mit dem Handrücken die Tränen weg und lächelte. "Ja," erwiderte sie und küsste ihn sanft auf den Mund, "ich war nur einen Moment lang von all den Erinnerungen an früher überwältigt." Ihr Mann umarmte sie und küsste sie seinerseits noch einmal. Für einen Moment genoss sie es die Geborgenheit, die von seiner Umarmung ausging, doch dann erklang die Türklingel. Emily öffnete und begrüßte ihre Schwester Aubrey, ihren Bruder Brian und dessen Frau Kiyoko sowie ihren Bruder Andrew und dessen Frau Sarah.
Nachdem sie ihre verblichene Mutter vor wenigen Tagen im Kreis der ganzen Familie zu Grabe getragen hatten, galt es nun die schwere aber unausweichliche Aufgabe zu meistern, ihren Haushalt aufzulösen und das Haus zu verkaufen... Denn von den Kindern hatte leider niemand wirkliche Verwendung dafür; zwar wäre die Alternative es zu vermieten auch möglich gewesen, aber das wäre auch mit Verpflichtungen sowie einer generellen finanziellen Belastung verbunden. Und nach einigem Hin und Her hatten die Geschwister gemeinsam beschlossen, dass es am Ende doch besser war, das Haus zu verkaufen und den Gewinn zu gleichen Teilen untereinander auf zu teilen.
" Sind Sean und Britney gut und sicher in New York gelandet?" erkundigte sich Emily bei ihrer Schwester. Sean war Aubreys Ehegatte und hatte aus beruflichen Gründen quasi schon am Tag nach der Beerdigung wieder zurück in die USA fliegen müssen; Britney, die Tochter, war mit geflogen, weil sie schon bald eine wichtige Prüfung in der Schule schreiben und nun dafür noch lernen musste. "Ja, gestern Abend habe ich noch mit ihnen telefoniert," erwiderte Aubrey, "natürlich wären sie gerne länger geblieben, aber ... naja geht halt nicht." Dann standen sie einige Minuten lang allesamt schweigend in der Diele und Emily wusste, dass ihre Geschwister genau wie sie selbst auch gerade in Gedanken von einer Welle aus Erinnerungen fortgerissen wurden.
Schließlich brach Brian das allgemeine Schweigen, in dem er sagte: "Nun, denn ... wo wollen wir anfangen mit dem Ausräumen?" Darauf wusste niemand wo wirklich etwas zu antworten; sicher, letztlich mussten sie irgendwo mit der Arbeit anfangen, aber derzeit waren sie noch immer zu sehr von den ganzen Erinnerungen überwältigt. Und so wanderten die Geschwister und ihre Ehepartner zunächst einmal nur so plan- wie ziellos durchs Erdgeschoss des Hauses.
"Hier hat sich echt nichts verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin," sprach Andrew nach einer Weile laut aus, was sie allesamt dachten. Die Möbel, die Bilder und Fotos an die Wänden sowie auch der ganze Dekokram; ihre Mutter schien rein gar nichts an der Einrichtung in den letzten Jahren verändert zu haben. Wenn man von dem modernen Telefon sowie dem Kühlschrank und den anderen neumodischen Elektrogeräten in der Küche absah.
Emily und Aubrey wanderten irgendwann über die Treppe ins Obergeschoss und landeten schließlich in jenem Zimmer, das sie sich einst als junge Mädchen geteilt hatten - zumindest bis Aubrey ausgezogen war, um in den USA zu studieren. Und auch hier hatte sich augenscheinlich rein gar nichts verändert seit damals.
Im Zimmer standen nach wie vor die beiden Betten, in den sie geschlafen hatten; im großen Kleiderschrank hingen noch immer die gleichen Kleidungsstücke, die beiden Frauen zu Teenie-Zeiten trugen und selbst dieselben alten, mädchenhaften Posten zierten die Wände. Emily setzte sich vorsichtig auf ihr altes Bett, ließ den Blick durch Zimmer wandern und schwelgte abermals in Erinnerungen. Aubrey öffnete indes den Kleiderschrank und nahm das ein oder andere Kleidungsstück heraus, um es näher zu betrachten.
"Dass ich mal hier rein gepasst habe," sagte sie irgendwann und hielt ein pinkes Oberteil hoch, auf dem hinter einem mit stark verzierten Hintergrund in glitzernden Paletten die Worte Rich Royal stand und welches nun ganz offensichtlich viel klein für sie war. "Tja," erwiderte Emily, "bis halt alt und dicker geworden seit damals." Sie schmunzelte als ihr ihre Schwester daraufhin die Zunge raus streckte. Eine kurze Weile nahm Aubrey noch weitere Kleidungsstücke raus, betrachte sie und dachte dabei, wie sie diese in ihren Teenagerjahren getragen hatte.
Ein ganz bestimmter Minirock stach ihr dabei ins Auge; sie nahm ihn heraus, betrachtete ihn und meinte dann: "Weißt du noch wie ich den hier anhatte und so aus dem Haus gehen wollte? Und Mum mich erwischt hat?" "Ja, sie hat dir gedroht, dich ins Internat oder noch besser gleich ins Kloster zu schicken;" antwortete Emily und fügte nach einer kleinen Pause noch hinzu: "Wollte sie'ihn nicht auch in den Müll werfen?" "Ja, ich konnte ihn noch rechtzeitig verstecken," entgegnete Aubrey und betrachtete das Kleidungstück noch einige Minuten lang, "trotz der Ohrfeigen, die ich dann von Mum bekam, habe ich ihr nie verraten, wo ich ihn versteckt hatte." Sie seufzte und hängte den Minirock dann wieder in den Kleiderschrank, wobei sie sagte: "Komischerweise hing er eines Tages wie frisch gewaschen wieder hier drin."
Dass ihre Mum das Versteck doch noch gefunden hatte, aber den Minirock ihrer Tochter dann doch nicht entsorgt sogar gewaschen und dann auch noch ordentlich in deren Schrank gelegt hatte, war wohl eine Tatsache - denn damals hatte sich ausschließlich Hildegard Brown um das Waschen der Kleidung gekümmert. Allerdings hatte Aubrey niemals den Grund erfahren, wieso sie ihn nicht wie angekündigt in den Müll geworfen hatte.
Nachdem sie noch einen letzten Blick in ihren alten Kleiderschrank mit den ganzen Sachen aus ihrer Jugendzeit geworfen hatte, schloss sie schließlich dessen Flügeltüren und ließ sich ebenfalls auf ihrem alten Bett nieder. Zunächst strich sie über die Decke, dann versuchte sie aus einer spontanen Laune heraus, mit dem ganzen Körper ins Bett zu kommen; Emily betrachtete derweil die verstaubten Bücher in den Regalen. Nach einiger Zeit wandte sie sich um und es bot sich ihr ein Anblick, bei dem sie nur viel Mühe vor Lachen nicht los prustete.
Es war Aubrey tatsächlich gelungen, gänzlich ins Bett zu gelangen; da sie aber seit den Teenagerjahren natürlich um ein ganzen Stück noch gewachsen war (und darüber hinaus als Erwachsene auch noch um einiges mehr an Körpergewicht hatte), war sie jetzt viel zu klein um noch ins Bett zu passen. Sie saß mit dem Rücken ans Kopfende gelehnt und obwohl sie ihre Beine soweit wie möglich angezogen hatte, stießen ihre Füße dennoch noch immer ans Fußende. "Gott verdammt," fluchte sie und versuchte erfolglos irgendwie wieder aus dem Bett zu kommen - begleitet von stetigen Knarren, als würde das Bett jeden Moment zusammen brechen. Die 52-Jährige konnte unterdessen nicht anders als laut los zu lachen, worauf ihr ihre Schwester einen finsteren Blick zu warf.
"Statt mich auszulachen solltest du mir mal helfen", schimpfte sie und versuchte noch mal erfolglos von alleine aus dem Bett zu kommen. Ihre Schwester kam, noch immer ein wenig kichernd, zu ihr und ergriff die ausgestreckte Hand. So gelang es Aubrey schließlich endlich die Beine aus dem Bett zu kriegen und sich auf die Bettkante zu setzen; doch als sie dann auch noch mit Hilfe ihrer Schwester hoch zu kommen versuchte, schlug das wieder fehl und am Ende landeten die beiden Frauen auf dem Boden, wobei Emily auf ihrer Schwester lag.
Einen Moment lang sahen sie sich nur an, dann lachten sie beiden gleichzeitig los und konnte mehrere Minuten lang nicht damit aufhören. "Ach hier seid ihr," drang dann plötzlich eine Stimme von der Tür hier zu ihnen und als die beiden Frauen aufsahen, stand ihr Bruder Brian amüsiert im Türrahmen - scheinbar hatte er das Ganze beobachtet. "Immer noch so kindisch," kommentierte er mit einem Grinsen. Seine Schwestern zählten zur Antwort bis 3 und streckten ihm dann synchron die Zunge raus.
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Auf den Spuren meiner Mutter
Ficción históricaHildegard Brown hat die Tyrannei des Nazi-Regimes sowie auch den zweiten Weltkrieg überlebt. Nun ist sie im Beisein ihrer 5 Kinder friedlich entschlafen. Bei der Auflösung des Haushaltes, um das Haus der verblichenen Mutter zu verkaufen, entdeckt ei...