Das zweite Tagebuch

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Samstagnachmittag, das Wetter zeigte sich seit wenigen Tagen von ihrer besseren Seite; sprich es blieb trocken und gerade schien sogar die Sonne. Ein schöner Tag zum Lesen, dachte Emily und begab sich mit dem zweiten Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter in der einen und mit einem Glas Limonade in der anderen Hand die Terrasse. Nicht dass ihre Familie sie störte, aber die Tatsache, dass sie heute Abend bis irgendwann spät in die Nacht das Haus für sich alleine haben würde, erfreute die 52-Jährige - denn so konnte sie ungestört lesen.

Maximilian war bereits unterwegs und machte mit Freunden einen Männerabend; was genau sie dabei tun würden, wusste Emily, aber das spielte auch keine Rolle. Sie gönnte ihrem Ehegatten diesen Freiraum und hatte auch vollstes Vertrauen in ihn. Und auch Tochter Avery würde jeden Moment das Haus verlassen und ebenfalls erst irgendwann in der Nacht heim kommen.

Die 27-Jährige wollte mit Freundinnen einen Frauentag machen, um sich so von Problemen mit ihrem Freund abzulenken, in deren Folge sie ihn um eine Pause "gebeten" hatte, um sich klar zu werden, wo sie jetzt mit ihrer Beziehung standen. Zwar hatte Avery bereits an Trennung gedacht, doch das kam für sie nur an allerletzte Möglichkeit in Frage. Emily jedenfalls freute sich, dass ihre Tochter endlich wieder aus dem Haus ging und was unternahm; denn in den letzten Tagen hatte sie sich oft in ihr Zimmer zurück gezogen und Trübsal geblasen.

Es klingelte an der Haustür und die 52-Jährige hörte ihre Tochter von der Diele her quer durchs Wohnzimmer rufen: "Ich geh dann!" "Tschüss viel Spaß und pass auf dich auf," rief Emily zurück und hörte wie einen Moment später die Haustür ins Schloss - jetzt war sie also für sich. Na dann wollen wir mal, dachte sie und schlug das Tagebuch auf.

Schon nach den ersten paar Seiten fiel der 52-Jährigen auf, dass sich die Einträge des zweiten Tagebuches ebenfalls viel mehr um private bzw. alltägliche Themen handelten statt um die Politik, die das Nazi-Regime unter Adolf Hilter damals betrieben hatte. Einzelne Beiträge der jugendlichen Hildegard Brown geb. Grätzer erzählten jedoch etwas sehr brisantes, z.B. ...

3. Juni 1933 (Nachmittag):

Meine Eltern streiten jetzt quasi ununterbrochen; natürlich versuchen sie es vor uns Kinder geheim zu halten, doch wir sind ja nicht doof! Meine Mutter glaubt jeden Tag, dass die Gestapo (so nennt man wohl die Gruppe dieser Uniformierten) jede Sekunde unser Haus stürmen könnte und uns alle ... auch uns Kinder ... verhaftet - nur wieso sollte man dies tun? Gerade wir Kinder haben doch nichts böse getan und nur Böse werden doch verhaftet oder!? 

Vater sagt, dass man unserer Familie nichts unterstellen könnte... das es keine Beweise gibt für das was seine Großmutter einst gehaben haben soll (was auch immer das war) und man ihnen daher nicht den Ariernachweis nach Paragraph 3  des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenstandes ab erkennen konnte

Bei diesen Worten muss Emily das Buch kurz ablegen und sich die Augen wischen; denn auch wenn sie gewiss keine Expertin in Sachen deutscher Geschichte mit dem Schwerpunkt auf die Nazi-Zeit war, so wusste sie doch genug darüber, um zu wissen was die Erwähnung eines solches Gesetzes - gerade in Verbindung mit dem Begriff "Arier" - gemeint war. 

Allem Anschein nach war die Familie ihres Großvaters insgeheim nicht das gewesen, was die Nazis damals im langjährigen Zenit ihrer Macht als nicht arisch oder nicht deutsch bezeichneten. Zwar ging aus dem Geschriebenen ihrer verstorbenen Mutter hervor, dass die Familie offiziell arisch war; dies aber letztlich nicht so ganz stimmte... und auch wenn es keinen Hinweis darauf gab, dass der Teil der Familie von ihrem Großvater her nicht jüdisch gewesen war; so hatte die 52-Jährige dennoch den Eindruck, das ebendies zu traf. Und das würde wiederum bedeuten dass sie alle, die nachfolgenden Generationen dieser Familie, ebenfalls zu einem Teil jüdisch waren - auch wenn das nach Emilys' Auffassung gewiss nicht schlimmes war!

Auf den Spuren meiner MutterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt