Obwohl es inzwischen schon einige Monate her war, dass sie das zweite Tagebuch gelesen hatte, konnte die 52-Jährige absolut problemlos die altdeutsche Schrift und von Anfang an wieder entziffern, als sie nun damit begann, das dritte Tagebuch zu lesen. Was sie jedoch überraschte, war die Art und Weise, wie ihre verstorbene Mutter als Jugendliche dieses Tagebuch geschrieben hatte.
Denn während das erste und zweite Tagebuch schön ordentlich formuliert wurden waren nahezu jeder einzelne Eintrag mit Datum und Tageszeit versehen gewesen waren, war das dritte Tagebuch nun ganz anders formuliert. Klar voneinander getrennte separate Einträge gab es gar keine mehr und auch keinerlei Angaben bezüglich Datum und/oder Tageszeit. Es war letztlich einziger fließender Text, welcher üblicher Weise durch Absätze unterbrochen wurde - letztlich las sich das Tagebuch wie ein Roman.
Es dauerte eine ganze Weile bis ich vom Land wieder zurück nach Berlin gelangte und da ich kein Geld hatte und somit keine Fahrkarte kaufen konnte, bin ich heimlich auf verschiedenen Güterzügen mit gereist, die Richtung nach Hause fuhren. Auf einem solchen Güterzug lernte ich zwei Männer kennen, Amos und Noah; da sie wie ich kein Geld hatten, mussten sie auch auf diese Weise Richtung Berlin reisen.Obwohl ich immer noch schockiert war, von dem was mir der Mann meiner Tante antun wollte, so habe ich mich trotzdem sofort gut mit den beiden verstanden. Sie haben mir beide erzählt, dass sie Juden seien und auf dem Weg nach Berlin waren, um dort Verwandten zu besuchen. Mit denen wollten sie dann ins Ausland fliehen. Als ich fragte, wieso sie denn fliehen wollten, hat Noah lauthals gelacht.
Zusammen mit seinem Gefährten Amos erzählt er mir dann schließlich, dass immer mehr Deutsche sie ... die Juden ... im ganzen Land auf offener Straße schikanieren und verprügeln und allgemein terrorisierten , seitdem dieser Adolf Hitler mit seiner Partei an die Macht gekommen war. Wie sie mir das so erzählten, musste ich an das Schild: Juden betreten diesen Ort auf eigene Gefahr denken, welches ich an einer Straße von jenem Dorf nah dem Hof meiner Tante gesehen hatte.
Die beiden Männer erzählten mir zudem, dass dieser Adolf nach und nach all seine Widersacher und politischen Gegner von seinen Gefolgsleute (das sind jene in diesen braunen Uniformen) wegsperren und sogar einfach töten lässt. Und all dieser Wahnsinn nur, damit er das Land allein regierte? Das konnte ich kaum glauben. "Glaub es ruhig," hatte Amos daraufhin gesagt, "dieser Adolf wird der Untergang für Deutschland sein und uns Juden noch viel schlimmeres antun als er und seine Schergen es bereits tun!" Als ich fragte, wieso der Hilter der Untergang bedeuteten würde für das Land, erwiderte Amos nur: "Krieg."
Von einem Krieg hatten die Erwachsenen auch schon damals gesprochen, als ich noch mit meinen Geschwistern und wohl von Mutter und Vater behütet zu Hause in Berlin gewohnt hatte. Damals war ich aber noch zu klein gewesen, um zu verstehen was Krieg bedeutete, aber mittlerweile weiß ich schon, dass das etwas Schlimmes war. Noah war zudem davon überzeugt, dass Hitler unter dem Jubeln der Deutschen bereits jetzt seine Anhänger Vorbereitungen für einen solchen Krieg treffen ließ. Was mich sehr verwirrte, war die Frage von Amos, wieso ich nicht auch jetzt fliehen würde bevor es zu spät sein würde.
"Wieso sollte ich denn fliehen?" frage ich dann, worauf mich die beiden einige Minuten lang verwundert und mit großen Augen anstarrten. "Na ja," meinte Noah schließlich zögerlich, "du bist doch auch jüdisch oder nicht?" Nun war ich es, die die beiden verwundert und mit großen Augen anstarrte. Jüdin? Ich war doch keine Jüdin! Ich war ein deutsches Mädchen mit deutschen Eltern!
Auch wenn ich durchaus schon gemerkt hatte, dass manche meine deutschstämmige Herkunft augenscheinlich anzweifelt, aufgrund dessen dass ich schwarze Haare hatte. Denn manche schienen zu glauben, dass nur Menschen mit blonden Haaren deutschstämmig seien; zumindest hatte ich das mal so am Rande mit bekommen, als eine Bekannte mit meiner Mutter beim Kaffee Smalltalk gehalten hatte und ich in der Nähe mit meiner Puppe spielte. Das war dann wohl auch der Grund, wieso mich diese Jungen angegriffen und beleidigt hatten, da sie mich einfach nur für eine Jüdin hielten.
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Auf den Spuren meiner Mutter
Historical FictionHildegard Brown hat die Tyrannei des Nazi-Regimes sowie auch den zweiten Weltkrieg überlebt. Nun ist sie im Beisein ihrer 5 Kinder friedlich entschlafen. Bei der Auflösung des Haushaltes, um das Haus der verblichenen Mutter zu verkaufen, entdeckt ei...