Nachdem sie die letzte Seite gelesen hatte, hielt Emily das Buch noch immer aufgeschlagen in ihren Händen und schien für eine ganze Weile wie zu Stein erstarrt zu sein. Von allen Erinnerungen ihrer verblichenen Mutter an deren Kindheit und Jugend, welche die 52-Jährige bis zu diesem Zeitpunkt nachgelesen hatte, waren die im dritten Tagebuch die bisher heftigsten gewesen.
Vor einigen Monaten noch hatte sie wie soviel andere Menschen über den zweiten Weltkrieg wie auch die Zeit in Deutschland unter der Nazi-Herrscht von Adolf Hitler und dessen Regime nur das gewusst, was in irgendwelchen Sach-/Fachbücher zu diesem Thema gestanden hatten und/oder was irgendein Historiker irgendwann mal in irgendeinem Buch darüber geschrieben hatte. Und natürlich gab es auch noch einige Bücher, in denen einzelne Überlebende dieser schlimmen Zeit über ihre individuellen Erlebnisse berichteten; doch auch wenn Emily diese entweder selbst in ihrem kleinen Buchladen zum Verkauf anbot oder aber solche Bücher gelegentlich auf Wunsch eines Kunden bei ihrem Lieferanten bestellte, so hatte sie selbst noch nie eins davon gelesen - ohne dass es dafür einen besonderen Grund gab.
Jetzt aber, wo sie die Tagebücher ihrer verstorbenen Mutter las, bekam die 52-Jährige auf diese Weise einen solchen individuellen Einblick, welche Auswirkungen die Nazi-Herrschaft und der zweite Weltkrieg auf die Menschen und deren tägliches Leben gehabt haben könnte. Und wenn ich schon so emotional ergriffen bin beim Lesen, wie muss es wohl dann erst für meine Mutter gewesen sein, die all das leibhaftig hatte erleben müssen? dachte sich Emily. Mit einem Seufzen klappte sie schließlich das Buch zu, legte es beiseite und stand auf.
Während sie mit Lesen beschäftigt war, hatte sich der Tag dem Ende geneigt und die Sonne war untergegangen, so dass nun die Dunkelheit der Nacht draußen herrschte. Kurz überlegte die 52-Jährige jetzt schlafen zu gehen, doch den Gedanken verwarf sie schnell wieder. Denn obwohl sie morgen wie immer früh aufstehen und zur Arbeit fahren würde, so fühlte sie sich einfach nur noch nicht müde. Und sie wusste halt, wenn sie nicht müde genug war, dann würde sie auch nicht einschlafen können.
So schaute sie noch einige Zeit lang fern, nach einer Weile gesellte sich noch ihr Ehegatte zur ihr sie kuschelte sich an ihn. Hin und wieder summte das Smartphone der 53-Jährigen auf dem Couchtisch. Ein paar Mal war es eine Bekannte, die ihr schriebt; dann war es mal eine ihrer Angestellten und mittlerweile auch Freundin von der die Nachricht über den Messenger Whatsapp kam. Aber viele Nachrichten kamen auch von ihrer ältesten Tochter und jedes Mal wenn etwas von ihr kam, freute sich Emily.
Manch einer mochte dies vielleicht kitschig bzw. als typisch frauenhaft betrachten; aber seit dem Beginn ihrer Schwangerschaft, schien die 30-Jährige Olivia vor vormütterlicher Euphorie fast "über zu kochen". Dementsprechend sprach sie auch fast von nichts anderem als von diesem einen Thema.
Zwar hatte auch sie immer wieder emotionalen Schwankungen sowie auch temporäre und schon wie Depressionen wirkende Stimmungstiefs, doch mit denen kam die werdende Mutter (bis jetzt) sehr gut klar. Was wohl auch an ihren tollen Ehegatten lag, der all ihre Launen und Schwankungen schon seit vielen Jahren tapfer ertrug - Olivia war von Natur aus etwas temperamentvoll, weshalb er sie auch liebevoll seine kleine Zicke nannte - und ihr trotz allem immer noch an der Seite stand.
Allerdings spielte auch ihre Mutter - teilweise auch ihre Tante im fernen Amerika - eine wichtige Rolle für sie in der Hinsicht, dann schließlich waren diese selbst auch mal mit ihren Kindern schwanger gewesen. Und auch wenn Emily mit ihrer ältesten Tochter heute Abend nur übers Smartphone Kontakt hatte und auch wenn es bis zur Entbindung noch eine ganze Weile hin war (wobei es wenn es nach Olivia ging, auch genauso genug morgen sein konnte), so waren die beiden trotzdem voll im Baby-Wahn.
Die 53-Jährige hatte sogar schon das ein oder andere Kleidungsstück und Spielzeug und auch noch manche andere Sache für ihr Enkelkind (das hoffentlich nicht das einzige bleiben würde) gekauft, all das warte jetzt im Keller des Hauses auf den Tag der Geburt. Natürlich hatte die zukünftige Großmutter alles mit dem Smartphone fotografiert und dann über den Messenger direkt an ihre Tochter geschickt.
Ihre andere Tochter fand es nebenbei bemerkt unsinnig, dass sie bereits jetzt schon soviel Kram fürs Baby sammelte; ja, Avery fand es sogar peinlich, dass ihre Mutter so im Baby-Wahn war - fast als würde sie selbst noch ein Kind kriegen. Doch Emily war sich sicher, dass ihre Tochter es nicht wirklich so böse meinte wie sie tat. Wenn das Baby erst mal geboren, würde Avery mit Sicherheit genauso hin und weg sein davon wie alle anderen; sie würde sich dann ganz sicher darüber freuen, Tante zu sein. Spätestens dann aber, wenn die 27-Jährige eines Tages selbst mal schwanger war, dann würde sie es verstehen. Davon war Emily felsenfest überzeugt.
Kurz bevor sie schlafen gingen, schrieb die 53-Jährige noch rasch eine Nachricht an ihre zweitälteste Tochter und wünschte ihr eine ruhige Nacht weiterhin (Avery hatte heute Abend die erste von insgesamt 4 Nachtschichten). Der nächste Tag begann wie immer schon recht früh am Morgen für sie mit ihren üblichen Ritualen, bevor sie dann schließlich zur Arbeit aufbrach; ihr Ehegatte war dann wie so oft auch zu diesem Zeitpunkt schon längst im Büro.
Gerade als sie mit ihrem Wagen rückwärts aus der großen Einfahrt zurück gesetzt hatte und jetzt die Straße entlang fuhr, sah sie den kleinen roten Twingo ihrer Tochter auf der anderen Seite näher kommen. Sie begrüßten sich kurz mittels Lichthupe und an der nächsten Straßenecke bog Emily auf die Hauptstraße ab. Wenigen Minuten später stand sie dann an einer großen Kreuzung und wartete darauf, dass die Ampel für sie auf grün umsprang.
Aufgrund eines erst wenige Minuten zuvor passierten Auffahrunfalls auf der in der Nordstadt liegenden und in Richtung Innenstadt führenden Hauptstraße musste sie wie eine ganze Reihe anderer Autofahrer eine Weile ungeduldig warten, bis die Polizei den Verkehr um die Unfallstelle herum leitete. Während sie wartete, sah sie aus dem Seitenfenster zum Himmel herauf; laut Wetterbericht, sollte heute wieder einer der heißesten Tage des ganzen Monats werden (zumindest bis jetzt). Gegen Nachmittag sollten dann aufgrund dieser Hitzewelle kleine und große Unwetter sich über dem Großteil des Landes ausbreiten.
Nachdem die 53-Jährige schließlich an ihrem Ziel angekommen war und einen freien Parkplatz in der Nähe gefunden hatte, öffnete sie ihren Buchladen und schaltete dann zunächst einmal (wie jeden Morgen) alle Lichter ein, bevor sie ihre Handtasche hinten abstellte und dann wieder nach vorne in den Verkaufsraum zurückkehrte, um routinemäßig zu schauen, ob auch alles ordentlich und und am richtigen Platz war.
Wenig später tauchte dann auch eine ihrer Angestellten auf, die mit ihr heute Morgen hier im Laden stehen und die Kunden bedienen würde. Eine kurze aber freundliche Begrüßung, dann für jede die zweite Tasse morgendlichen Kaffee frisch gebrüht. Anschließend hieß es sich mit irgendwelchen kleinen Arbeiten die Zeit zu vertreiben, bis endlich die ersten Kunden/innen in den Laden kamen und bedient werden wollten.
Auch wenn es leider nicht mehr gar so viele waren, die diesen Buchladen besuchten, wie es früher der Fall war - vor allem seitdem eine Filiale einer großen Unternehmenskette für Buchhandels- und Servicegesellschaften nicht weit von hier in der Fußgängerzone der nordhessisches Landkreisstadt aufgemacht hatte. Es waren immerhin noch genug Kunden und Kundinnen, damit Emily ihre Angestellten sowie auch sämtliche Rechnungen und sonstigen Ausgaben des Ladens zu bezahlen und dann noch etwas Geld übrig hatte, um ihren Beitrag zur Versorgung der Familie beitragen zu können; auch wenn ihr Ehegatte dabei den Löwenanteil trug.
Möglicherweise war es auch gerade der Vorteil, dass Maximilian als sehr gefragter und selbstständiger Architekt eigentlich für genug Einkommen sorgte, weshalb sie seit einiger Zeit dann und wann doch mit Gedanken spielte, den Buchladen an jemanden ab zu treten bzw. zu verkaufen und ihr Leben dann allgemein ruhiger und gelassener weiter an zu gehen. Vermutlich lag es auch daran, dass sie bald Großmutter sein würde und dann (wie wohl jede andere an ihrer Stelle) natürlich auch möglichst viel Zeit mit ihrem Enkel - oder auch ihrer Enkelin verbringen wollen würde.
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Auf den Spuren meiner Mutter
Ficción históricaHildegard Brown hat die Tyrannei des Nazi-Regimes sowie auch den zweiten Weltkrieg überlebt. Nun ist sie im Beisein ihrer 5 Kinder friedlich entschlafen. Bei der Auflösung des Haushaltes, um das Haus der verblichenen Mutter zu verkaufen, entdeckt ei...