Smoke In The Air

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In der kalten Nacht herrschte fest vollkommene Stille. Hier und da bellte noch der ein oder andere Hund im Nachbarshaus, der Wind wehte schwach und brachte einige Blätter zum rascheln.
Aber es war keine schöne Nacht.
»Ich muss dir etwas beichten, Alice.«

Ich horchte abrupt auf, und auf einmal begannen bei mir sämtliche Alarmglocken zu schrillen. Mir wurde in meiner Magengegend ganz flau und ich hatte ein ganz ungutes Gefühl. Wenn ein Gespräch so begann, dann konnte das nichts gutes verheißen. Jetzt stellte sich mir nur noch die Frage was genau er mir zu beichten hatte. Würde mein bester Freund, mit dem ich gemeinsam so viel durchgestanden hatte und den ich so lange kannte, als hätten wir beide gemeinsam den ersten Atemzug getan, eventuell wegziehen? Hatte er Stress oder Probleme in der Beziehung? Hatte er seine Freundin betrogen? Oder, um Himmels Willen, bitte nein, hatte er seine Freundin geschwängert?! Ihm war einfach alles zuzumuten. Denn bei ihm konnte man sich nie sicher sein, was gerade los war.
Es waren verdammte 3.00 Uhr morgens oder so, und wir standen uns hier gegenüber. Mitten in der Finsternis, an einer frischen Oktobernacht. Aber er hatte darauf bestanden, dass wir rausgehen. Er bräuchte frische Luft und könnte draußen besser nachdenken und runterkommen, als in dem stickigen Haus seiner Großeltern.

Aber ich war verdammt noch mal viel zu übermüdet um mir über all das Gedanken zu machen. Und mein Leben war verdammt noch mal beschissen genug, um noch mehr Probleme zu bekommen. Warum, warum also ... ?
Unsicher hob ich meinen Blick. Aber dann sah ich ihm fest in die Augen. Und wartete. Bis er anfing, von selbst zu reden. Er wusste, dass ich ihm aufmerksam zuhörte.
»Ich war neulich beim Arzt«, eröffnete er bei mir, und sofort wurde mir alles klar. Aber ich wollte es von ihm hören. Nein, nein ich wollte es gar nicht hören. Wollte es nicht wahrhaben.
»Nichts besonderes eigentlich, wollte mich mal halt nur durchchecken lassen und so weiter.«
Pause. Eine Pause, die sich für mich bis in die Unendlichkeit erstreckte und an meinen Nervenenden zog, bis sie bis zum Überreiz angespannt waren. Dann fuhr er fort:
»Und du weisst, dass ich rauche. Dass ich viel rauche.«
Das brauchte er mir nicht zu sagen. Das erlebte ich jedes Mal, wenn wir zusammen waren. Vorwurfsvoll warf ich einen Blick auf die Zigarette die er in der Hand hielt, doch in der von meinem Handy spärlich beleuchteten Umgebung konnte ich nur das rot glühende Ende ausmachen.
»Ich hab mich halt durchchecken lassen, und da is' ja so alles mögliche bei. Darunter auch ein Test für die Lunge.«

Wieder eine Pause. Genussvoll und als würde ich nicht bereits erahnen was er mir hier in wenigen Sekunden eröffnen würde, hauchte er den Rauch der Zigarette aus und er verflüchtigte sich in der kühlen Nachtluft. Früher hätte ich die Nase gerümpft. Früher. Doch ich hatte mich daran gewöhnt.
Ich wandte meinen Blick von der Zigarette ab und sah ihm direkt in die Augen, hielt den Blickkontakt aufrecht. Seine blauen Augen schimmerten in einem schwachen Grau und musterten mich in einer Todesruhe und Ernsthaftigkeit.
»Und dabei hat sich herausgestellt, dass eine Möglichkeit besteht, dass ich eventuell Lungenkrebs habe.«

Er sagte es, als würde es ihn gar nicht betreffen. Während er mir den Rauch quasi ins Gesicht hauchte (nicht absichtlich natürlich) tat sich in mir ein riesiges Loch auf. Und es kam mir vor wie ein Streich des Schicksals, dass er eine Kippe dabei in der Hand hielt und rauchte, während er mir dies beichtete.
Schweigen meinerseits.
Und ein Schlag ins Gesicht. Gleichzeitig war ich betäubt. Paralysiert. Bewegungsunfähig, beinahe nicht dazu in der Lage diese Informationen aufzunehmen, ganz zu schweigen davon, sie zu verarbeiten. Lungenkrebs, halte das Wort immer wieder in meinem Kopf nach, wie ein stumpfes Echo in der leeren Höhle, die sich in meiner Brust auftat.
Ich hätte vielleicht in Tränen ausbrechen sollen, ihn heftig umschlingen sollen, gefangen in einer Umarmung, aus der ich ihn, nie, nie, niemals wieder entlassen hätte. Ich hätte vielleicht einfachirgendwas sagen sollen.
Aber ich sagte nichts.

Ich schwieg ihn einfach nur an, und in meinem Inneren fühlte ich ein Häufchen nichts. Mehr war ich selbst ja auch nicht.
Nichts.
Aber ich stellte mir die Frage, womit ich das verdient hatte. Womit hatte er das verdient? Womit hatte ich verdient, dass ich mir jetzt jeden Tag die Frage stellen durfte, ob er Lungenkrebs hat. Und falls sich das bestätigen würde, wie viel Zeit ich noch mit ihm hatte. Womit hatte ich verdient, dass mir immer zuerst die Personen aus meinem Leben entglitten, die mir wichtig waren? Oder viel es mir bei anderen einfach nur nicht auf, weil sie mir weniger bedeuteten?
Entgeistert starrte ich nur die Zigarette in seiner Hand an. Ich dachte mir, dass ich das Teil hassen sollte. Und das tat ich auch. Aber er liebte es, und das wusste ich. Vielleicht sogar mehr als sein eigenes Leben. Nichts würde ihn davon abbringen können mit dem Rauchen endgültig aufzuhören.
Nicht einmal Krebs?

Nun würde ich mir also jeden Tag die gleichen Fragen stellen:
Hat er wirklich Krebs? Wie weit ist der Krebs fortgeschritten? Wie viel Zeit bleibt uns noch gemeinsam? Wie kann ich ihn davon abhalten seine Lunge zu ruinieren?
Aber diese Ungewissheit war ja noch nicht einmal das Schlimmste.
Das schlimmste war, dass ich absolut keine Ahnung hatte, was ich machen sollte. Sollte ich dabei zusehen, wie er sein Leben zwar »genoss« aber langsam und sicher seine Gesundheit zugrunde richtete und somit all diejenigen, die ihm nahestanden? Ich hörte ihm kaum zu als er davon sprach, dass er nichts bereuen würde.

Verdammt, das solltest du aber! Du sagst, dir geht es dabei gut, weil du niemanden ausser dir selbst mit dem Rauchen schaden würdest. Körperlich vielleicht nicht, aber emotional, du Idiot! Du sagst, du genießt dein Leben mit dem Rauchen und willst nicht aufhören, aber was ist mit den Personen, die du zurücklässt! Würde es dir nicht auch Freude bereiten mit ihnen Zeit zu verbringen? Was ist mit deiner Mutter, deinem Vater, deinen Großeltern? Deiner Familie? Deinen Verwandten und Bekannten? Deinen Freunden? Was ist mit mir?!

Er liebe alles an den Zigaretten? Den Geschmack, den Geruch, die Wirkung? Ich hasse sie. Ich verfluche sie. Es hat vielleicht so ausgesehen als würde ich es ihm gönnen, weil sie ihm so gut tue. Aber die ganze Zeit drängte es mich, ihm diese verfickte Kippe aus dem Mund zu reißen, sie auf den Boden zu werfen, drauf rumzutrampeln und sie unter 'n bisschen Erde verscharren. Danach war mir zumute. Nicht nach heulen, nein. Na ja, das sowieso, aber die Wut obsiegte und loderte heiß auf. Und ich begann Zigaretten zu hassen.

Doch langsam fand auch ich meine Sprache wieder, und ich unterhielt mich ohne jede Gefühlsregung mit ihm weiter, doch in mir bröckelte alles, wie ein einsturzgefährdetes Haus. Aber mein einziger Gedanke galt dem finden einer Lösung mit einem erfolgreichen Ergebnis, was ihn davon abhielt sich die Lunge wegzurauchen.
Ich durfte nicht zulassen, dass mir diese Kippen mich meines besten Freundes beraubten ...

1. Mal Hochgeladen - Oktober 2014
Alte Aktualisierung - 18. Juli 2015
Hochgeladen - 16. August 2016

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