Schwärze.
Absolute Dunkelheit. Mit weit aufgerissen Augen tappte sie durch die Finsternis, die sie von allen Seiten umgab. Das Dunkle lechzte geradezu nach ihr, streckte die schier endlos langen Arme nach ihr aus, doch sie griffen immer wieder ins Leere. Werden sie ihr Ziel irgendwann finden?, fragte sie sich im Stillen, ganz bei sich.
Doch die Stille war laut. Die Stille war so erdrückend laut und in ihrem Kopf dröhnte es enorm. Benommen schüttelte sie sich und fuhr mit den Händen in schnellen Bewegungen über ihre Arme, um die Kälte zu vertreiben. Aber sie wich nicht. Es breitete sich keine Wärme aus. Ein kalter Zug erfasste sie, obwohl kein Wind wehte, kein Lüftchen sie streifte, und fuhr mitten durch sie hindurch, direkt in sie hinein.
Sie sah an sich herab. Tiefste Düsternis herrschte und in ihrer Brust klaffte ein riesiges Loch.
Voller Schrecken und Entsetzen schnappte sie keuchend nach Luft. Kein Geräusch ertönte, doch in ihrem Kopf ertönte es umso lauter und hallte nach.
Was ist nur geschehen?, wimmerte sie innerlich. Als sie all ihren Mut erfasste und den Mund öffnete, um zu sprechen, kaum kein Laut aus ihr heraus. Sie versuchte sich an etwas zu erinnern, an ebendiese Erinnerungen, die sie einst so elendig plagten, doch jetzt, wo sie sie vergessen hatte, wünschte sie sich wieder zurück. Sie wollte wissen, was geschehen war. Was mit ihr geschehen war. Und sie wollte nicht für immer an diesem Ort ohne Lichtblick, ohne Aussicht auf ein bisschen Helligkeit, verweilen. Sie wollte leben. Doch am allermeisten wollte sie wissen, wer sie war.
Schritte hätten erklingen müssen, als sie einen Weg beschritt, der scheinbar kein Ende finden sollte, jedoch vernahm sie nichts, außer der lauten Stille in ihrem Kopf. Vollkommen unvermittelt traf sie die Stimme, die wie aus dem nichts in ihrem Kopf auftauchte und nicht ihre war, aber dennoch danach klang.
Du bist verloren. Du hast dich verlaufen in den Tiefen der Dunkelheit und nun wird dich niemand mehr finden. Vermutlich haben sie dich schon alle vergessen.
Die Stimme war nicht mehr als ein leises Wispern, aber darin schwang so viel Unheilvolles und Höhnisches mit, dass sie zusammenfuhr.
Wer sind sie? Wer hat mich vergessen und warum? Wieso bin ich hier gelandet?, stellte sie zögerlich ihre Fragen. Auf diese sollte sie jedoch keine Antwort erhalten.
Vergiss es. Vergiss es, so, wie du alles andere auch vergessen hast. Es wird sich ohnehin niemand an dich erinnern. Und selbst wenn, würden sie dich nicht vermissen. Begreifst du es denn nicht? Du bist ein Nichts und Niemand, auf ewig dazu bestimmt, in der Dunkelheit deiner eigenen Seele umherzuirren, wie ein verlorenes Kind.
In ihrem Kopf schwoll ein Crescendo an, dass sich zu einem grotesken Lachen steigerte. Vorlauter Verzweiflung presste sie sich beide Hände auf die Ohren. Es nützte nichts. Die Stimme war immer noch da, ganz präsent. Nicht einmal ihre eigene Stimme vermochte den furchtbaren Klang dieser so schrecklich fremdartig gleich klingenden Stimme zu übertönen. Nichts und niemand konnte das. Sie war verloren im Kampf gegen die Stimme, die nicht übertönt, nicht ausgeblendet und nicht abgeschaltet werden konnte. Verzwickt und in die Enge getrieben, bedrängt und verhöhnt. Sie war gefangen in der Dunkelheit ihrer eigenen Seele, ihrer Selbst, auf ewig dazu bestimmt darin umherzuirren und nie ihre wahre Bestimmung zu finden.
Einst wurde Zwietracht in ihr gesät, ganz still und heimlich, unbemerkt und unscheinbar, doch einmal tief in ihrem Herzen verankert, kam sie nicht mehr davon los. Es versteckte sich dort wie ein Schatten, der nur darauf wartete, über sie zu bestimmen.
Nun war dieser Tag gekommen und sie ist gestürzt. Gefallen. Sie fiel tief und erwachte in einem Nichts, schlimmer als jeder Albtraum. Und wie so oft bereits, wusste sie sich nicht zu helfen.
Etwas regte sich in ihr. Gefühle, die sie zu übermannen drohten. Und erst jetzt ebbte die Stimme langsam ab, um diesem immensen Gefühlsausdrücken zu lauschen.
Wut - siedend heiß, Frustration- stechend scharf, Trauer - bittersüß, Angst - total lähmend und bittere Verzweiflung. Lautlose Schluchzer stiegen in ihrer Kehle auf und ihr Körper bebte. Tränen bahnten sich ihren Weg über ihr ganzes Gesicht, strömten ihre Wangen hinab, glitten ihre Nase hinunter und streichelten ihr Kinn. Ähnlich wie ihre Gefühle, spielte auch die Temperatur ihrer Tränen verrückt. Mal waren sie unerträglich heiß, dann wechselten sie zu einer eisigen Kälte, von der sie glaubte, sie müssten auf ihrem Gesicht zu kleinen Eiskristallen gefrieren. Schimmernd schön, eisig kalt und frostig.
Dann wurde sie geblendet. Ein strahlend weißes Licht, wie die Ansammlung von Abermillionen von lauter winzig kleinen Sternen, leuchtete ihr entgegen. Vor Schmerz kniff sie die Augen zusammen und hielt sich beide Hände vor Augen. Das grelle Licht war so plötzlich vor ihr aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Aber sie war ja auch im Nichts. Oder war sie das Nichts? Sie konnte sich an rein gar nichts mehr erinnern, nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen. Ganz zu schweigen davon, wie sie hier gelandet war.
Die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Das Licht entfernte sich, schien in sich zusammenzuschrumpfen. Für einen aberwitzigen Moment bildete sie sich sogar ein, dass Licht würde sich absichtlich von ihr entfernen. Tat es nicht auch genau das? Sie nahm die Händen von ihren Augen und sah genauer hin: Das Licht blendete sie nun weniger als zuvor und sie konnte deutlich erkennen, wie das Licht Stück für Stück von ihr abrückte. »Halt!«, rief sie ebenso empört wie auch entsetzt aus. Ihre eigene Stimme nahm jedoch nur Farbe und Klang in ihrem Kopf an. Aber sie konnte doch schließlich nicht zulassen, dass diese komische Licht sie hier alleine zurück in der Dunkelheit ließ! Warum war es denn dann überhaupt erst aufgetaucht? Nur um sie zu verhöhnen und verspotten? Sie wusste nicht, wohin dieses Licht führte, doch sie glaubte fest daran, dass es um Längen besser war, als in dieser Schattenwelt zu verweilen. Sie musste einfach dieses Licht erreichen! Sie zwang ihre Beine dazu, einen Schritt nach dem anderen zu setzen, bis sie allmählich in ein schnelleres Tempo verfiel. Allerdings schien das Licht keinerlei Rücksicht auf sie zu nehmen. In all ihrer Hoffnungslosigkeit schrie sie sich die Seele aus dem Leib, und obwohl kein einziger Laut ihrem Mund entwich, fühlte sie sich bereits nach wenigen Minuten des Rennens und stummen Schreiens erschöpft und ausgelaugt. Jeder Schritt, den sie tat, fühlte sich an, als schleppe sie ganze zehn Kilo Zusatzgewicht an ihren Beinen, als würde sie jedes Mal nur ein wenig weiter in Matsch und Unrat versinken, welcher sie dann nur noch ein Stücken mehr zu Boden zog und sog. Bald glaubte sie, sie würde sogar statt vorwärts zu laufen, rückwärts laufen und das Licht entferne sich deswegen immer weiter von ihr, anstatt das es näher rücken müsste. Sie war nicht länger Herr ihrer Selbst. Weder psychisch, noch physisch.
Schließlich gestand sie sich ein, dass sie es nicht länger leugnen konnte: das Licht entfernte sich immer weiter weg von ihr und überließ sie langsam aber sicher wieder der Dunkelheit. Sie versank immer weiter in diesem stürmischen Meer aus Gefühlschaos . Letztendlich beschloss sie aufzugeben. Es hatte keinen Sinn mehr zu kämpfen. Jegliche Kraft war aus ihrem Körper gewichen, jeder Wille zum kämpfen, jeder Mut seinem Schicksal entgegenzutreten.
Langsam sank sie auf ihre Knie und verharrte in dieser Position. Mit dem Kopf nach unten geneigt zeigte sie absolute Resignation und Kapitulation.
Sie gab sich der Dunkelheit vollständig hin und hieß die Kälte in ihrem Inneren willkommen.
Erneut hochgeladen: 31/01/2018 - Dienstag

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Blue Secrets
PoetryIch drehe mich Und tanze Heb' ab Fliege Auf diesen Zeilen In schwarz-weiss Auf den Rücken meiner Bücher Denn lieber bin ich allein in meiner Welt Als nur eine Sekunde In dieser. (Alte Texte) 02/08/2016 ⓒ by Hassgewitter All Rights Reserved [Bildr...