Durchbruch

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Eine Woche sind wir schon wieder zu Hause und John Flynn ist jeden Tag gekommen, um nach Ana zu sehen. Seine erste Empfehlung war Ruhe zur Eingewöhnung. Eine Diagnose kann er nicht stellen, da Ana ja nicht spricht, aber er vermutet ein Trauma, doch keiner von uns hat eine Ahnung, woher es kommen kann. Grace kommt jeden Tag, untersucht Ana, überprüft ihr Gewicht und spricht leise mit ihr. Sie duldet Grace und Flynn, mehr aber nicht. Sehr hilfreich ist es allerdings nicht, was Flynn und Grace mir sagen. Ana ist immer noch wie ein Zombie, der keine Regung zeigt. Ich zwinge mich zur Geduld, aber es fällt mir immer schwerer. Sogar bei Rose habe ich schneller Fortschritte erzielt. Zusätzlich zu den Konsultationen bei Ana spricht Flynn zudem täglich mit mir über mein Befinden und es kotzt mich an, aber er besteht darauf.

Es schmerzt mich über die Dinge zu reden, die mich momentan beschäftigen. Grace Vergebung zum Beispiel. Sie behandelt mich normal und scheint mir wirklich alles zu verzeihen, was ich getan habe. Meine Hilfslosigkeit bei Ana und die Angst, sie könnte mir nicht vergeben oder etwas erlebt haben, woran ich Schuld bin. Ich habe schon genug Schuldgefühle mit den Dingen, die ich Rose angetan habe und deren ich mir bewusst bin. Aber die Angst, wirklich für Anas Zustand verantwortlich zu sein, wächst mit jedem Tag mehr, den sie passiv und wie ein Schatten hier im Escala verbringt. Gail bemuttert sie und Ana hat ein wenig zugenommen, vielleicht auch, weil wir nichts anderes tun können, als sie zu verwöhnen und zu umsorgen. Sie verwehrt uns nichts, isst auf, trinkt, wenn man es ihr sagt, und ich schicke sie jeden Abend früh ins Bett. Flynn hat ihr leichte Antidepressiva verschrieben, die sie einnimmt, nachdem er lange auf sie eingeredet hat. Irgendwann hat sie genickt, und wir beide wussten, dass sie die Tabletten nur nimmt, damit sie ihre Ruhe hat. Sie schläft sehr viel, aber Grace und Flynn beruhigen mich, dass das zum Heilungsprozess gehört. Ich habe zwar keine Albträume mehr von der Crackhure und ihrem Zuhälter, dafür Träume davon, wie Ana mich verlässt. Diese sind schlimmer als die anderen Träume, und ich wache jeden Morgen auf und habe das Gefühl, als würde ich ersticken. Ich kann sie nicht mehr gehen lassen, aber ich habe mir geschworen, sie nie wieder zu etwas zu zwingen.

Ich wache auf und es ist dunkel, Ana liegt ruhig neben mir und ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es drei Uhr früh ist. Müde gehe ich ins Wohnzimmer und setze mich an meinen Flügel, um ein wenig Abstand von allem zu bekommen. Traurige Klänge von Chopins Nocturne helfen mir, mich ein wenig zu fokussieren. Ich kann nicht entspannen. Ich habe Ana zerstört, ich habe Rose zerstört, meine Mutter enttäuscht - ich bin einfach schlecht für alle, die mir nahe stehen. Als ich das Stück beendet habe, vergrabe ich meinen Kopf in den Händen. Zum ersten Mal seit der ganzen Sache, seit Anas Verschwinden, zum ersten Mal seit jenem Tag, als ich alleine und wartend in diesem verfickten Restaurant saß, fangen die Tränen, die ich innerlich zu lange bekämpft habe, an zu fließen. Ich brauche Ana und doch schade ich ihr. Ich liebe sie, und sie sieht mich nicht an. Ihre Lebendigkeit habe ich förmlich aus ihr herausgesaugt. Ich bin mir sicher, dass ich sie zerstört habe. Und ich weiß nicht einmal, wie ich es getan habe! Ich weine um die verlorenen Jahre, um die Frau, der ich im richtigen Augenblick ihre Liebe nicht zurückgeben konnte und um die ich jetzt kämpfen muss, härter als ich je zuvor um etwas gekämpft habe.

Eine federleichte Berührung in meinen Haaren lässt mich hochschrecken, ich erwarte Gail, aber stattdessen sehe in blaue, traurige Augen, die mich vorsichtig, fast furchtsam ansehen. Ich will etwas sagen, aber ich traue mich nicht. Sie blickt mich an und ihre Finger streichen sanft weiter über meinen Kopf, als wäre ich ein kleines Kind, welches sie beruhigen müsste. Ich schäme mich nicht, dass ich noch mehr Tränen vergieße. Gott, sie reagiert. Sie reagiert auf mich! Ich fühle Schmerz, Hoffnung, Wut, Trauer und Liebe in mir, ein Gefühlscocktail, dem ich nicht gewachsen bin. Sie steht neben mir und ich kann nicht anders, ich ziehe sie an mich heran, meinen Kopf lehne ich an ihren Bauch und meine Arme umschlingen ihre Hüfte, während meine Gefühle sich durch die Tränen nach oben kämpfen. Ich umklammere sie und ihre Hände streicheln sanft meine Haare. Sie gibt mir Halt, obwohl sie diejenige ist, die Halt braucht! Sogar jetzt mache ich alles falsch, aber ich kann diese Verbindung nicht lösen, halte sie, weine weiter, während meine Frau, meine Anastasia, mich wortlos allein durch ihr sanftes Streicheln und ihre Anwesenheit tröstet.

50 Shades of IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt