Kapitel 6

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Nathan bleibt genau 10 Tage auf dieser Insel, ehe er wieder nach London verschwindet. Bedauerlicherweise bleiben ich und Mary 12 Tage. Ich weiß jetzt schon, dass ich an den beiden letzten Tagen sehr schlechte Laune haben werde. Doch im Moment bin ich überglücklich.

Robert und Mary sind mittlerweile schon eine halbe Stunde weg und langsam glaube ich wirklich, die beiden knutschen schon wild rum.

„Wie ist der Sonnenuntergang, Harper?" Nathan's Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich richte meine Aufmerksamkeit dem Meer zu.

„Er ist wunderschön. Viele Farben sind ineinander verspielt. Anfangen tut es bei Gelb, aufhören tut es bei Rot." Und jetzt wird mir bewusst, dass er vielleicht gar nicht weiß, was Gelb ist und was Rot ist.

„Hört sich atemberaubend an. Bestimmt ein schöner Anblick, wie die Sonne vom Meer immer mehr verschluckt wird." Nathan lächelt.

Meine Neugierde bringt mich noch in den Wahnsinn. Meine Gedanken drehen sich immer um die Frage, ob er schon immer blind ist. Aber ich kann ihn doch nicht einfach fragen? Was ist, wenn er dadurch verletzt wird? Er redet doch schließlich nicht gerne über seine Blindheit. Zumindest habe ich den Eindruck. Aber würde ich es wollen, wenn ich blind wäre?

Nein.

Doch trotzdem kann ich dieser Frage nicht aus dem Weg gehen.

„Nathan? Kann ich dich mal etwas Privates fragen?" Meine Stimme ist leiser als gedacht.

Kurz räuspert der Grünäugige sich und schaut mich dann an.

„Natürlich." Dabei schluckt er.

Ich bin froh, dass er mit ‚Natürlich' antwortet. Immerhin kennen wir uns erst seit heute. Daraus ziehe ich jetzt einfach mal, dass er mir ein bisschen vertraut.

Das ist doch gut, oder?

„Bist du schon immer blind oder hat was dazu geführt, dass du blind wurdest?", frage ich ruhig.

Kurz schließt Nathan seine Augen und stützt seinen Kopf mit seinen Händen ab.

Vielleicht hätte ich diese Frage doch nicht stellen dürfen. Was ist, wenn er mich jetzt nicht mehr mag, weil er merkt, dass ich mehr über seine Blindheit erfahren möchte. Und das möchte ich sowas von. Es klingt vielleicht gemein oder egoistisch, aber ich will Nathan kennenlernen. Richtig kennenlernen, will alles über ihn und sein Leben erfahren. Die guten wie auch die schlechten Dinge über ihn wissen. Ich bin einfach nur total verknallt. Da ist es doch selbstverständlich, solche Dinge wissen zu möchten.

„Bis zu meinem 16. Lebensjahr konnte ich sehen. Aber dann...." Und weiter redet Nathan nicht. Schweigen erfüllt die Nachtluft. Wie Nathan vorher sagte, die Sonne wird vom Meer verschluckt. Ein paar Vögel zwitschern noch durch die Luft und Menschen gehen in Massen auf der Strandpromenade entlang, auf der Nathan und ich auf einer Bank sitzen und nur ich den schönen Ausblick wahrnehmen kann.

Ich weiß gar nicht, was ich denken oder fühlen soll. Einerseits tut es gut zu hören, dass er schon einmal alles sehen konnte, doch anderseits muss es fürchterlich sein, auf einmal nichts mehr zu sehen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie schwer es für Nathan damals gewesen war, durch wie viel Kummer und Leere er durchgehen musste. Ich hoffe er hatte Freunde und Familie, die ihn dabei unterstützten und die es heute noch immer tun.

„Danke, dass du es mir erzählt hast. Aber mehr brauchst du gar nicht sagen. Du hast mir schon so viel von dir anvertraut, dass es für diesen Moment reicht.", rede ich beruhigend auf ihn ein.

Eine angenehme Stille herrscht zwischen uns, in der jeder seine Gedanken sammeln kann.

Ich möchte auf keinem Fall, dass Nathan sich von mir erdrückt fühlt. Er soll sich bei mir wohl fühlen, wie ich bei ihm.

Was würde ich gerade tun, wenn ich Natan nicht kennengelernt hätte? Würde ich dann mit Mary auch auf der Strandpromenade entlang gehen, wie all die anderen Urlauber? Oder würde ich ebenfalls auf dieser Bank sitzen?

„Ich will dich besser kennenlernen, Harper.", sagt der Junge mit den haselnussbraunen Haaren auf einmal.

Mein Herz macht einen Purzelbaum, so glücklich fühle ich mich. Er will mich also kennenlernen, sowie ich ihn. Er will mich nicht von sich abstoßen, ganz im Gegenteil.

Ich lächle ihn an, obwohl ich weiß, dass er es nicht sehen kann.

„Das beruht eindeutig auf Gegenseitigkeit, Nathan."

Und jetzt strahlt er über das ganze Gesicht.

Ein riesen Gelächter zerstört unsern Moment. Und wie anders zu erwarten, war der Übeltäter meine beste Freundin und ihre neue Eroberung, denke ich mal. So wie die beiden sich gegenseitig anlachen und gemeinsam über etwas lachen, sind für mich Signale genug gesetzt worden.

„Robert, du bringst mich noch um.", kichert Mary vor sich hin und bekommt dabei rote Backen.

„Das will ich mal nicht hoffen. Schließlich haben wir noch wundervolle 10 Tage vor uns." Robert legt einen Arm um Mary's Taille.

„Na, und was habt ihr beiden Hübschen gemacht?" Mary lächelt fröhlich über das ganze Gesicht und zwinkert mir dabei zu.

„Äh, wir-.", weiter komme ich nicht, denn Nathan übernimmt das Wort.

„Wir haben uns unterhalten."

„Unterhalten also." Mary zwinkert mir noch einmal zu und wackelt mit ihren Augenbrauen.

Na was denkt sie denn, was wir sonst gemacht hätten? Etwa wie sie? Direkt auf jemanden stürzen und ihn um den Finger wickeln? Und ich denke immer meine beste Freundin kennt mich, wüsste eigentlich, dass ich mich nicht auf sowas einlassen würde.

„Sehen wir uns morgen wieder, Harper?" Nathan dreht seinen Kopf zu mir und ich muss daran denken, dass er mich ja riechen und spüren kann.

„Ja, gerne." Meine Stimme klingt nervöser, als beabsichtigt. Ich hoffe, er denkt nicht, dass er mich nervös macht.

Mary verabschiedet sich bereits von Robert und das mit einer sehr innigen Umarmung.

Jetzt heißt es wohl wieder Abschied nehmen. Aber dieses Mal ist es kein Abschied, der zu keinem Wiedersehen mehr führt. Dieses Mal ist es ein Abschied den ich gerne mache, weil ich weiß, dass ich ihn morgen wiedersehen kann.

„Gute Nacht.", sage ich zu Nathan und warte noch ab bis er etwas sagt und anschließend werde ich aufstehen.

„Gute Nacht, Harper. Schlaf gut." Nathan lächelt mich an und wie bei unserem ersten Abschied, legt er seine weiche Hand an meine Wange und fährt leicht über sie.

Mein Herz pocht wie mein gesamter Körper. Ich glaube, man kann sogar meinen Herzschlag hören. Zumindest Nathan, der nur wenige Zentimeter von mir entfernt ist.

Doch seine Hand ist keine einzige Lücke mehr entfernt. Sie berührt mich und ruft Gefühle in mir hervor, die ich noch nie gespürt habe.

Plötzlich spüre ich wieder eine Leere an meiner Wange. Seine Hand ist wieder bei ihm. Doch das brennen, dass er hinterlassen hat, ist bei mir. Und sammelt sich genau wie die anderen Momente in meinen Gedanken, welche ich niemals wieder gehen lassen werde.

„Bis Morgen, Jungs.", ruft Mary fröhlich und zieht mich dabei wieder mit.

Nathan muss wohl gemerkt haben, dass ich nicht mehr da bin, denn er sieht mir nach. Wobei er mich nicht sehen kann, sondern riechen und spüren.

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Warm eingekuschelt liege ich in meinem Bett, dass ich mir mit Mary teile und denke an den wundervollen Tag zurück, bevor ich in meinen Gedanken versinke und einen Traum erlebe, wo die Hauptperson der Junge mit den haselnussbraunen Haaren ist.

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Hey 🙋
Vielen Dank für 100 Reads und die vielen Votes, die ich schon bekommen habe. Ich hätte echt nicht gedacht, dass meine Geschichte schon von so vielen Menschen gelesen wird. 😊
LG: Eva 🙈

Love Is Stronger (ABGESCHLOSSEN)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt