Kapitel 9

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Manchmal muss man nicht alle Dinge sehen, es reicht oftmals schon aus, es zu hören. Normalerweise besitzen Menschen beide Eigenschaften. Sie können sehen und hören. Aber nicht jeder kann beides. Der wundervolle Junge mit den haselnussbraunen Haaren kann zum Beispiel nur hören. Er ist von der Sprache und nicht von dem Tun der Menschen abhängig. In meinen Augen ist er etwas Besonders. Er kann genauso Lachen wie all die anderen. Er kann genauso weinen wie all die anderen. Er kann genauso fühlen wie die anderen und er kann genauso denken wie die anderen. Doch sehen kann er nicht, doch trotzdem lässt er sich nicht unterkriegen und das bewundere ich an Nathan. An den Jungen, der gerade mit mir im Sand sitzt und dem Rauschen des Meeres zuhört.

Unsere Beine haben wir ausgestreckt und immer wenn eine Welle kommt, überschüttet Salzwasser unsere Füße. Und gleich wie gestern, verschwindet die Sonne immer mehr vom Himmel. Versteckt sich weit hinter dem Meer bis sie plötzlich gar nicht mehr zu sehen ist und erst am Morgen wieder auftaucht.

Ich und Nathan sind die Einzigen weit und breit, die am Strand sind.
Mary und Robert, gehen wie die vielen anderen auf der Strandpromenade entlang.

„Gehst du noch zur Schule?", fragt Nathan und dreht dabei seinen Kopf zu mir.

„Nein. Ich bin vor drei Wochen fertig geworden. Du?"

Ich mag es, wenn er mir Fragen stellt. Vor allem wenn er mit dem Fragenstellen anfängt.

„Ich bin schon seit einem Jahr fertig." Kurz lacht er auf.

„Aber eigentlich gehe ich schon seit meinem 16. Lebensjahr nicht mehr zur Schule. Aber vor einem Jahr habe ich tatsächlich meinen Abschluss nachgeholt."

Vielleicht offenbart er sich mir jetzt? Vielleicht will er mir mehr über seine Vergangenheit erzählen.

Soll ich den Schritt wagen und ihm eine Frage zu seiner Blindheit machen? Oder wird er sich dadurch eingeengt fühlen?

„Wie...wie ist es...eigentlich passiert, also...das mit deinen Augen?" Mein Herz hämmert wie verrückt.

Ich hoffe, ich habe ihn nicht verletzt. Was ist, wenn er gar nicht mit mir darüber reden möchte? Wenn er nie vorgehabt hätte, es mir zu erzählen?

Nathan's Kopf dreht sich in die Richtung des Meeres und plötzlich wirkt er wie ein verletzlicher, kleiner Junge. Seine Augen sind geschlossen und sein Brustkorb hebt und senkt sich ungleichmäßig.

„Harper, ich weiß nicht...", sagt Nathan im Flüsterton.

„Du hast Recht. Das geht mich überhaupt nichts an. Aber du weißt ja wie ich bin. Neugierig und stelle immer blöde Fragen. Es tut mir leid." Ich fühle mich schlecht. Ich wollte ihm wirklich nicht zu nahe treten, doch meine dumme Neugierde musste sich wieder einmal durchsetzen.

„Harper du musst wissen, es liegt nicht an dir, warum ich es dir nicht erzähle. Das Problem ist, ich habe es noch nie jemanden erzählt, den ich erst seit 2 Tagen kenne. Aber Harper, du kannst mir glauben, ich vertraue dir. Ich vertraue dir so sehr. Aber bitte lass mir noch Zeit, bis ich es dir erzählen werde. Und das werde ich. Versprochen. Ich verspreche es dir genauso, wie du mir versprochen hast, deine Art nicht zu ändern, wenn ich dir erzähle, dass ich blind bin. Versprochen." Nathan lächelt mich an.

Ich kann mir gerade selber eine runterhauen. Warum stell ich denn nur immer so blöde Fragen? Ich darf mich nicht immer einmischen, was mich nichts angeht.

„Du kommst aus London, oder?", fragt Nathan und versucht zu lächeln.

Er versucht, genau wie ich, das Thema schnellstmöglich zu wechseln. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

„Ja. Und du?"

„Ich komme auch aus London." Nathan lächelt mich an.

„Wohnst du noch bei deinen Eltern oder alleine?", hackt Nathan weiter nach.

„Ich wohne noch bei meinen Eltern. Aber ich denke nicht mehr lange."

„Warum?"

„Naja, nach den Ferien werde ich ans College gehen und dort in der Nähe will ich dann auch ein kleines Apartment. Und du, bei wem wohnst du?"

„Ich wohne auch noch bei meinen Eltern. Aber ich denke, ich werde noch nicht so schnell eine eigene Wohnung haben."

Stimmt. Er kann zwar mit vielen Situationen alleine umgehen, aber wie soll er es bitte schaffen, ganz alleine zu wohnen? Es muss hart für ihn sein, wenn alle in seinem Alter studieren und schon von zu Hause ausgezogen sind. Und er dagegen ist noch auf seine Eltern angewiesen.

„Vielleicht wirst du bald eine eigene Wohnung haben.",  versuche ich ihn aufzumuntern.

„Aber wie soll ich es den schaffen? Alleine in einer Wohnung? In der ich mich nicht einmal auskenne. Weißt du, ich bin für den Rest meines Lebens auf jemanden angewiesen. Ich bin hilflos wie ein kleines Tier." Nathan fährt sich frustriert durch die Haare.

„Aber du darfst nicht aufgeben, Nathan. Irgendwann wirst du auch eine Familie haben, die dich über alles liebt. Sie werden immer bei dir sein.", sage ich leise zu Nathan.

„Harper, niemand wird mich lieben können. Wer will denn schon sein ganzes Leben auf seinen Freund aufpassen? Keiner. Glaube mir, ich habe schon Freundinnen gehabt bevor ich blind wurde und alle sind sie verschwunden, haben einen riesen Bogen um mich gemacht, als sie erfahren haben, dass ich blind wurde."

„Aber das muss ja nichts heißen.", versuche ich es, doch Nathan sagt: „Ich war mit 14 Jahren schon der beliebteste Junge der ganzen Schule, Harper. Damals war ich voll der Draufgänger. Ich war auf jeder Party, habe mich volllaufen lassen und danach immer ein Mädchen flachgelegt. Das war ich damals. Ich war, wie man immer so schön sagt, ein Badboy. Jede wollte mit mir schlafen und die meisten kamen auch dran, aber als es dann alle erfahren haben, dass ich plötzlich blind bin, wollte keine einzige mehr mit mir schlafen. Und ich kann es auch verstehen. Wer möchte bitte mit jemandem schlafen, wenn der eine den anderen nicht sehen kann? Wenn er nicht sagen kann, wie schön man ist? Wenn man nicht weiß, was man gerade anfasst?" Nathan lacht bitter auf.

Langsam gehe ich jedes Wort nochmal durch meinen Kopf durch. Kann das gesagte gar nicht glauben. Nathan war also wirklich mal ein Badboy? Er hatte also schon mit vielen geschlafen? Ich kann ihn mir so nicht vorstellen. Natürlich sieht er wie ein Sahnestücken aus, aber das er früher so war ist echt krass zu hören.

„Ich weiß, jetzt habe ich dich wahrscheinlich abgeschreckt. Ich kann verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, weil du jetzt mein wahres Ich kennst, aber so war ich nun mal. Und bestimmt wäre ich es immer noch, wenn nicht dieser blöde Unfall gewesen wäre.", sagt Nathan traurig.

„Du hast mich nicht abgeschreckt, Nathan. Ich mag dich und das kann nichts ändern. Egal wie du früher einmal warst.", sage ich liebevoll zu ihn.

„Danke Harper. Ich mag dich auch."

Nathan schaut mir in die Augen und ich in seine. Blaue Augen treffen auf wunderschöne grüne Augen. Ich kann nicht anders und lächle wie eine Verrückte. Und Nathan tut es mir gleich.

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