22 ~ Jade

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Ich versuchte tief durchzuatmen. Nur noch zwei Stunden, dann ging es los. Ich würde Ophelia spielen. Das erste mal vor einem Publikum, in meiner Schule. Das erste Mal vor Mama. Ich hoffte so sehr, sie nicht zu enttäuschen. Mit Grauen dachte ich an das lange weisse Kleid im Kostümraum, dass auf mich wartete.

All die Sätze und Reime, die ich inzwischen im Schlaf aufsagen konnte, kreisten in meinem Kopf herum. Ich war gestern mit Lion noch einmal das komplette Stück durchgegangen. Er war der Meinung, ich konnte es. Aber war ich das auch?

Ich vermisste Jo. Ich hätte sie gerne angerufen, aber ich wusste, dass die Show vor meiner Aufführung begann und sie musste mitten in Vorbereitungen stecken. Ich lächelte in Gedanken an unsere Idee für Eric. Hoffentlich zog sie es durch.

Es klopfte an der Tür. Ich wusste, dass es Mama war und öffnete. Man sah mir die Aufregung wohl an, denn sie fragte gleich: «Alles klar bei dir?», und trat ein. Ich wollte nicken, doch dann gab ich seufzend die Wahrheit zu.
«Ich hab total Angst, es zu versauen.»
Mama setzte sich auf mein Bett und klopfte neben sich. Ich setzte mich zu ihr und sie legte den Arm um meine Schulter.

«Hab ich dir schon erzählt, dass ich früher immer totales Lampenfieber hatte?», fragte sie. Ich schüttelte stumm den Kopf, ich wollte ihr weiter zuhören und ihrer beruhigenden Stimme lauschen.
«Immer vor einer Aufführung hatte ich so grosses Lampenfieber, dass ich Schluckauf bekam. Es war richtig schlimm, du weisst ja wie das ist. Je mehr man versucht, es weg zu bekommen, desto stärker hat man es.»
«Hast du es nicht wieder weggebracht?», fragte ich verwundert. «Du musstest doch auf die Bühne.»
Mama lachte. «Meistens habe ich es geschafft, indem ich mich auf den Kopf gestellt habe. Aber einmal, wollte es einfach nicht weggehen. Wir haben an dem Abend Romeo und Julia aufgeführt und ich sollte gleich als Julia auf die Bühne. Die ganze Truppe hatte schon Angst, jemand anderes müsste für mich einspringen.»

Ich stellte mir vor, wie Mama hinter der Bühne verzweifelt auf dem Kopf stand und alle sie beobachteten. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen.
«Und, mussten sie?»
Mama schüttelte den Kopf.
«Paul, der beste Freund von Romeos Schaupieler, meinte, ich müsse Essig mit Würfelzucker trinken, dass sei ein alter Trick von seinem Grossvater.»
«Iiiih», kreischte ich. «Sag mir bitte nicht dass du das gemacht hast!»
Mamas Miene blieb total ernst. «Doch. Ich hatte keine Wahl. Entweder ich konnte nicht mitspielen, oder ich trank die Essig-Zucker-Mischung. Und weisst du was? Es hat geholfen.»

Ich schauderte beim Gedanken daran, so etwas zu trinken. Ich hoffte bloss, nie ernsthaften Schluckauf zu haben, wenn Mama in der Nähe war....

«So, jetzt haben wir genug gequatscht. Wir müssen gehen. Sonst scheitert es nicht am Schluckauf, sondern am Zuspätkommen.» Sofort wurde ich wieder ernst und folgte Mama nach unten. Es ging los.

«Seid ihr noch da?», rief Papa aufgeregt aus dem Wohnzimmer. Ich schaute kurz zur Tür rein.
Papa sass vor dem Fernseher und rief aufgeregt: «Das ist das Studio! Da kommt deine Schwester gleich live!»
Er stellte die Lautstärke aufs Maximum und rutschte noch näher an den Bildschirm.
«Meine Tochter ist im Fernsehen, ist das denn zu glauben!», sagte er aufgeregt.
Ich lächelte und wünschte Joana im Geiste viel Glück bei ihrem Auftritt. Jetzt musste ich mich aber auf meinen konzentrieren, denn Mama drängte schon zum gehen. Und ich wusste ja jetzt: Zuspätkommen ist schlimmer als Schluckauf!

Schaschlikspieße und ShakespeareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt