17. Kapitel. Abschied

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Selina sah die Schlucht hinab, die sie schon einmal hinuntergefallen war. Natürlich etwas weiter südlich. Aber auch hier war es ziemlich hoch. Vor ihnen lag die Stadt Sidian auf der anderen Seite der Obsidianschlucht. Die Gondel hatte schon Isabella mit ihrem Pferd und Raphael hinüber gebracht und nun führte Kyle Grims Pferd und das Tier mit dem Gepäck in die Gondel, während Grim die restlichen Pferde festhielt. Es war den Tieren nicht ganz geheuer, weshalb sie sich anfangs dagegen wehrten, da hinein zu steigen. Als William jedoch hinter ihnen ein leises Knurren von sich gab, konnten die Pferde gar nicht schnell genug in die Gondel laufen. Sie zog William beiseite und sah ihn traurig an.
"Selina, weine nicht bitte. Ich möchte dich lächelnd in Erinnerung haben, nicht weinend.", sagte er sanft und streichelte ihr Gesicht.
"Noch weine ich nicht, allerdings kann ich bei solch einer Situation auch schwer lächeln.", murmelte sie und umarmte ihn.
"Komm lebend zurück zu mir, bitte."
"Ich werde mein Bestes geben, dir diesen Wunsch zu erfüllen, mein Liebling.", sagte er und küsste sie sanft. Während des Kusses nahm er ihre Hand und legte etwas hinein. Überrascht löste sie sich von ihm und sah auf das Ding in ihrer Hand. Es war Wills alter Siegelring.
"Aber Will ..."
"Nein Sel. Ich werde ab sofort den meines Vaters nutzen und er könnte dir noch irgendwann nützlich werden. Sieh es als Versprechen, dass ich zu dir zurückkommen werde."
Sie wollte noch etwas sagen, wurde aber von Grim unterbrochen.
"Selina, es ist Zeit. Die anderen warten schon.", rief er und führte Schattentänzer in die Gondel.
Selina lief widerwillig in die Gondel zu ihrem Pferd und hörte noch wie William zu Grim sagte:
"Pass gut auf sie auf, Katze."
Grim nickte lediglich zur Antwort, bevor er auch in die Gondel stieg und die Gondel vom Steg löste.
Selina sah zurück zu Will, während sich die Gondel langsam vorwärts bewegte.
William hob die Hand zum Abschied. Auch sie winkte und hielt ihre Tränen mit Mühe zurück.
Als die Gondel auf der anderen Seite ankam, war sie gezwungen sich umzudrehen und zu Isabella zu gehen. Ein letztes Mal drehte sie sich zu Will und sah, dass er gerade auf Kassiopeia stieg. Kyle trieb sein Pferd an und ritt vorraus. Will sah noch einmal kurz zu ihr und folgte ihm dann. Sie fühlte sich leer. Der Abstand zwischen ihnen wurde größer und sie wusste, dass ein Teil von ihr immer bei ihm bleiben würde. Sie wusste nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Diese Szene und noch einige anderen brannte sie sich tief ins Gedächtnis ein, bevor sie sich abwandte. Selina atmete tief durch, unterdrückte zwanghaft ihre Tränen, stieg auf Schattentänzer und schlug den Weg Richtung Norden ein. Da sie sich hier am besten auskannte und die anderen keine genaue Ahnung hatten, welchen Weg sie einschlagen sollten, musste sie die Führung übernehmen. Grim hatte Raphael vor sich in den Sattel gesetzt, um sie ein wenig zu entlasten. Sie führte sie aus der Stadt hinaus auf eine breite Gebirgsstraße.
Sie ritten immer tiefer in die Berge und nach einer Weile machten sie eine kurze Rast.

Selina sah sich um. Seit sie aus der Stadt heraus waren, hatte sie das dumpfe Gefühl verfolgt zu werden. Das Rudel konnte es nicht sein, da sie die Wölfe bei Will gelassen hatte, damit sie kämpfen würden. Sie ließ den Blick weiter schweifen. Ihre Weggefährten schienen es nicht zu bemerken, doch sie wurde unruhig. Wenn sie etwas hier angreifen würde, würden sie nicht viel Handlungsspielraum haben. Zwar war die Straße breit aber auf der linken Seite ragte die tiefe Schlucht. Grim kam zu ihr hinüber.
"Du wirkst unruhig. Was ist los?"
"Ich habe das Gefühl verfolgt zu werden. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht.", antwortete sie und suchte die Hänge ab.
Grim schien es zu verstehen, denn er trieb ihre kleine Gruppe weiter an.
Es wurde langsam Abend und schließlich brach die Nacht über sie herrein. Grim ritt nun vorraus und hielt die Augen offen. Selina beobachtete weiter aufmerksam die Berghänge. Gerade als sie den Gedanken verfolgt zu werden abschütteln wollte, bemerkte sie eine Bewegung im Augenwinkel und sie sah nach oben. Dort war eine zusammengekauerte Gestalt zu erkennen, scheinbar ein Mensch. Sie wusste genau, dass er ihre Augen sehen konnte, weshalb sie ihn warnend ansah. Regungslos starrte er sie an.
Grim bremste ab.
"Dort oben ist jemand. Ein Mensch, der uns scheinbar folgt.", murmelte sie leise und trieb Schattentänzer an. Der Hengst fiel in einen flotten Galopp und ließ die Gruppe schnell hinter sich, bis sie begriffen hatten, dass sie sich beeilen sollten. Kaum waren die Pferde im Galopp, sah sich der Verfolger gezwungen seine Tarnung aufzugeben und sich zu sputen, um hinterher zu kommen. Nur noch wenige Wegminuten trennten sie von den sicheren Toren Hagenfelses. Selina spornte ihr Pferd noch mehr an und bremste es erst ab als die Wachen sie anhielten.
"Halt! Wer seid Ihr?" Sie hatten ihre Schwerter gezogen und hielten sie ihr nun entgegen.
"Sir Anot. Es ist schön Euch wohlauf wiederzusehen.", sagte Selina zu der Wache, die ihr am nächsten stand und zog ihre Kapuze vom Kopf.
Die Wache sog scharf die Luft ein.
"Lady Selina, seid Ihr es wirklich?"
"Ja bin ich und jetzt lasst uns ein, damit wir uns in das Haus zurückziehen können, das uns gekauft wurde. Meine Weggefährten und ich sind erschöpft von der Reise."
"Ja natürlich. Ich bringe Euch gleich dort hin.", sagte er und ließ sie das Stadttor passieren. Grim sah den Mann misstrauisch an.
"Du kannst ihm vertrauen. Er war ein alter Freund meines Vaters.", flüsterte sie dem Tiger zu.
"Selina, vorerst traue ich hier niemandem. Woher weiß er überhaupt, dass du ein Haus gekauft hattest?"
"Es ist eine kleine Stadt. Hier spricht sich alles herum. Sobald einer etwas weiß, weiß es die gesamte Stadt.", antwortete sie und ließ sich von Sir Anot die Straße entlang und den Hang hinauf führen, wo am Ende der Straße nur noch ein einziges großes Haus stand. Neben dem Haus stand ein Stall und hinter dem Stall war eine große Koppel angelegt.
Das Haus stand auf einer saftigen Wiese und schien sehr einladend.
"Da wären wir.", sagte Anot und lief den Weg zurück.
Selina stieg von Schattentänzer und führte ihn in den Stall. Hier waren sechs Boxen für die Pferde aufgebaut und sie sattelte ihres ab, bevor sie es in die Box entließ und das Wasser an einer Pumpe auffüllte. Als die Pferde fertig waren liefen sie in das Haus und Selina schloss auf. Sofort ging sie nach oben, suchte sich eines der Schlafzimmer aus und fiel ins Bett. Morgen konnte sie das Haus erkunden gehen.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne durch ein hohes Fenster hinein.
Sie musste im Licht der Wintersonne blinzeln, die ihr doch überraschend warm ins Gesicht strahlte. Sie sah sich um und bemerkte, dass sie sich in einem ihr fremden Schlafzimmer befand. Es war schön eingerichtet mit elegant geschnitzten Holzmöbeln und grünen Akzenten. Es gefiel ihr sofort.
Sie brauchte eine Weile bis sie begriff, wie sie hier rein gelangt war. Sie stand auf, zog sich an und sah aus dem großen Fenster. Es zeigte nach Südosten und da die Sonne herrein schien, musste es bereits später Vormittag sein.
Vor der Tür erklang lautes Gepolter und mit einem begeisterten Schrei wurde die Tür aufgestoßen.
"Selina, das musst du dir unbedingt ansehen!", rief Raphael aus und sprang im Zimmer herum, wie es nur ein kleiner Junge tun konnte. Das lockte ihr ein Schmunzeln auf die Lippen und sie fragte:
"Was muss ich mir denn unbedingt ansehen?"
"Das Haus, den Garten, einfach alles! Du bist die Einzige, die sich noch nicht umgesehen hat."
Selina lachte und ließ sich von ihrem Cousin herumführen. Der Junge war so begeistert von allem und konnte gar nicht aufhören zu erzählen.
Als er sie endlich in der Küche entließ, stieg ihr ein Duft in die Nase, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
Grim stand vor einer großen Bratpfanne und starrte auf deren Inhalt.
Neugierig trat sie näher und sah in die Pfanne.
"Um Himmels Willen, was hast du da gejagt? Es riecht himmlisch.", schwärmte sie.
Er lachte.
"Das war ein Steinbock. Die Überreste habe ich in den Wald geworfen. Die Gewürze werde ich nicht verraten, weil es ein altes Familienrezept ist. Du kannst dich schon einmal hinsetzen, es ist gleich fertig."
Gesagt, getan. Selina setzte sich und wartete geduldig.
Isabella deckte den Tisch und briet sich neben Grim selbst etwas.
"Bei euch Raubtieren bleibt doch nichts übrig, außerdem ist mir da noch zu viel Blut dran.", begründete sie ihre Entscheidung, während sie etwas komisch riechendes in der kleineren Pfanne schwenkte.
Grim legte ihr ein großtes Steak auf den Teller und dazu etwas Brot. Sie verdrehte die Augen, als sie einen Bissen davon nahm.
"Grim, das ist der Wahnsinn. Das musst du irgendwann noch einmal machen.", sagte sie und aß sich satt.
"Sir Anot kam auch vorhin, um nach dir zu sehen.", erzählte Isabella.
"Als wir ihm sagten, dass du noch im Bett bist, hatte er Fragen gestellt. Vorerst sollten wir keine Informationen weitergeben, solange Krieg herrscht. Er wird vorraussichtlich später noch einmal wieder kommen."
"Das ganze Königreich weiß, dass ich Williams Frau bin, also können sie nicht davon ausgehen, dass ich plaudere. Sir Anot will uns nicht schaden, sondern nur das Neuste erfahren.", erklärte sie und wuchtete sich aus dem Stuhl.
Ihr Gewicht zu stemmen wurde mit jedem Tag schwieriger.
"Ich gehe ein wenig raus.", sagte sie und wandte sich zur Tür.
"Willst du Gassi gehen?", stichelte Grim und räumte die Teller weg. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren ging Selina hinaus.
Im Schutze der Nadelbäume zog sie sich aus und verwandelte sich.
Ihre Pfoten berührten kaum den Boden, da lief sie schon los und den Berg hinauf.

Grim sah ihr nachdenklich hinterher. Etwas gefiel ihm an ihrem ganzen Aufenthalt hier nicht. Schon allein die Tatsache, dass sie auf dem Herweg verfolgt wurden, konnte nichts Gutes heißen.
"Meinst du, sie kommt wieder?", fragte Isabella, die plötzlich neben ihm stand. Erschrocken sprang er ein Stück zurück und fauchte.
"Ich dachte, dass ihr euch nicht so leicht erschrecken lasst. Scheinbar habe ich mich geirrt.", schmunzelte sie. Verstört sah er sie an.
"Ich habe genug über Wölfe gelesen. Sie schotten sich ab, wenn die Geburt ansteht. Glaubst du, dass sie schon soweit ist?"
Er schüttelte, nachdem er sich wieder gefangen hatte, den Kopf.
"Nein, noch kann es nicht soweit sein und solange es nicht soweit ist, wird sie auch noch nicht verschwinden. Allerdings kann es sein, dass sie in Wolfsgestalt entbindet. Sie quält sich, indem sie sich in diesem menschlichen Körper herumträgt. Wenn es soweit ist, schweben wir in großer Gefahr, wenn wir nicht vorsichtig sind. Sie wird alles und jeden töten wollen, der sich in ihre Nähe wagt, sofern es kein naher Blutsverwandter ist. Wir sollten uns vorbereiten.", sagte er und ging hinauf in Selinas Zimmer, nachdem Isabella zugestimmt hatte.

Larwenia Band 6 - Lord of Dark and DespairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt