16. Kapitel. Auf nach Hagenfels

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Selina stand spät an diesem Morgen auf. Sie wollte den Abschied so lange wie möglich hinauszögern. Es tat so weh, sich von Will trennen zu müssen. Wie gerädert lief sie hinunter in den Speisesaal, da sie ihren Gefährten dort vermutete, außerdem musste sie frühstücken. Nach einer gefühlten Stunde kam sie unten an und setzte sich auf ihren Platz. Raphael saß auch noch hier und aß. Er wirkte glücklich wieder einmal von hier wegkommen zu können. Der junge Bursche sah sie von der Seite an.
"Selina?", fragte er leise.
Sie bemühte sich zu einem Lächeln.
"Ja, was ist denn?", fragte sie ruhig.
"Bist du denn gar nicht glücklich darüber, wieder nach Hause zu können?", fragte der kleine Junge und sah sie mit den Augen an, die ihren so ähnlich waren. Sie schüttelte den Kopf.
"Ich bin hier zuhause, Raphael." Es stimmte, was sie sagte. Mittlerweile war hier ihr Zuhause, bei Will. Und dieses Zuhause musste sie heute verlassen.
"Aber du hast Hagenfels schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Fehlt es dir gar nicht?"
"Nicht mehr.", antwortete sie kurz.
"Wann brechen wir auf?", fragte Raphael nach einigen Augenblicken der Stille.
"Wenn William das Zeichen zum Aufbruch gibt."
"Kommt er mit?"
"Nein.", antwortete sie krächtzend und ließ von ihrem Frühstück ab. Langsam stand sie auf und ging hinaus auf den Hof. Dort, an einem Pfosten angebunden, standen schon ihre Pferde. Die Tiere wurden gerade gesattelt und die Stallburschen wuselten auf dem Hof umher. Schattentänzer war bereits fast fertig und die Diener brachten das Gepäck für diese Reise. Sie schnürten zusammen mit den Stallburschen das Gepäck auf die Tiere. Sie würden mit vier Pferden losziehen. Drei würden sie zum Reiten verwenden und eines als Lastentier. Raphael würde mit bei ihr im Sattel sitzen. Sie ging zu Schattentänzer und streichelte seine Nüstern. Während sie ihn so streichelte, dachte sie an ihre Zeit in Hagenfels zurück. Damals als die Stadt noch ein Zuhause für sie war und sie sich keinen anderen Wohnort vorstellen konnte. Sie ließ die Hand sinken. Jetzt konnte sie es sich nicht vorstellen Will zu verlassen. Er war zu ihrem zuhause geworden. Der Hengst stupste sie an, um mehr Streicheleinheiten zu bekommen, doch Selina ging wieder zurück ins Schloss. Sie wusste gerade nichts mit sich anzufangen. Den ganzen Tag hatte sie William noch nicht gesehen, doch sie wusste, dass er etwas Wichtiges zu regeln hatte. Der Krieg plante sich schließlich nicht von alleine. Sie ahnte auch, dass Nathaniel schon nicht mehr im Schloss war und dass er schon am frühen Morgen losgezogen war. Ihre Vorahnung wurde bestätigt als sie an seinem Zimmer vorbei ging und seinen verfliegenden Geruch wahrnahm. Leise seufzte sie und wandte sich in Richtung Bibliothek, wurde allerdings von einer weiblichen Stimme aufgehalten.
"Lady Selina. Euer Gemahl lässt nach euch rufen."
Sie wandte sich der Dienerin zu und fragte:
"Wo ist er?"
Sie ahnte es bereits, doch sie wollte Gewissheit.
"Er ist in seinem Arbeitszimmer.", sagte sie und zog sich zurück.
Wieso suchte er sie nicht selbst?, fragte sie sich und machte sich auf den Weg.

Er roch sie schon als sie vor der Tür stand. Nachdenklich beugte er sich über die Papiere und rief Selina zu sich herein. Unschlüssig stand sie da und sah ihn an.
"Du wolltest mit mir sprechen?", fragte sie leise und er nickte.
"Nathaniel ist vor wenigen Stunden gegangen und ist jetzt auf den Weg nach Kalistrien."
Sie nickte und wartete darauf, ob er weitersprechen würde.
"Außerdem wird es langsam Zeit dass ihr aufbrecht, damit ihr spätestens kurz nach Einbruch der Nacht in dem Haus seid, dass Albrecht für euch besorgt hat. Es hat einen kleinen Stall also werdet ihr euch keine Sorgen um die Pferde machen müssen. Die Bauern dort haben schon Lebensmittel und alles brauchbare hin gebracht also dürfte es euch vorerst an nichts mangeln.", sagte er. Sie sollte nicht erfahren, dass Nathaniel ihm geraten hatte sich noch vor dem Krieg krönen zu lassen. Sie sollte nicht noch einen Grund haben, um länger bleiben zu wollen. Es war so schon schwierig genug. Bald würde Sumar-Gardo überrannt werden und die feindlichen Armeen tiefer in das Land eindringen. Dann gab es keine Chance mehr, um zu fliehen.
Kalistrien und Xadrien würden als erstes Larwenia angreifen, da sie schwächer waren und nicht so viel Magie beherrschten, wie die Menschen in Sondra. Hoffentlich würde Lukes Armee bald kommen.
"Ich werde euch noch bis nach Sidian begleiten, dann werde ich umkehren und ihr weiterziehen.", erklärte er und sah ihr Lächeln. Er spielte mit dem Gedanken seine Schwester, sobald sie wieder hier war, ebenfalls nach Hagenfels zu schicken, um dort Schutz zu suchen, doch das würde ein hartes Stück Arbeit werden, sie davon zu überzeugen, wenn sie wusste, dass Nathaniel hier kämpfen würde. Er stand auf und strich eine Haarsträhne aus Selinas Gesicht. Ihre weißblonden Haare waren seit ihrer ersten Begegnung immer länger geworden und fielen in sanften Wellen ihren Rücken hinab.
Will seufzte leise. Er verfluchte Daron dafür, dass er nicht schon tot war, dann hätte er sich nicht von Selina trennen müssen. Allgemein wäre vieles anders gewesen.
Es klopfte an der Tür.
"Euer Hoheit, die Pferde sind bereit."
Selina sah ihn an und umfasste seine Hand. Sanft drückte er sie und führte sie hinaus. Im Hof warteten schon Grim, Raphael und Isabella auf sie. Kyle stand ebenfalls dabei und hielt zwei Pferde an den Zügeln. Kassiopeia scharrte unruhig mit den Hufen. Er nahm Kyle den Hengst ab und hielt gleichzeitig Schattentänzer fest, damit Selina aufsteigen konnte. Raphael setzte er auf Kassiopeia und stieg hinter ihm auf den Hengst.
Als alle endlich auf den Pferden saßen und Grim das Lastenpferd an seinem Sattel festgebunden hatte, trieben sie die Pferde an und ritten zum Schlosstor hinaus.

Larwenia Band 6 - Lord of Dark and DespairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt