Der Fremde

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Cooper lief mit seiner Tasche über der Schulter in Richtung Esssaal. Er dachte an die kurze Begegnung mit Scarlett, an die er sich noch von früher erinnern konnte. Sie hatte sich völlig verändert. Ihre grünen Augen waren noch immer umwerfend, aber sie war bei Weitem nicht mehr das Kind, an das er sich erinnerte. Es kam ihm seltsam vor, dass Scarlett nicht die Hauptrolle tanzte. Er hatte sie tanzen sehen und er fand, dass sie für die Hauptrollen besser geeignet war als- wie hieß sie nochmal?-Melissa. Technisch war Melissa sehr gut, fast perfekt, aber ihr fehlte es an Ausdruck, den Scarlett hatte. Cooper fand, dass man bei den zu besetzenden Hauptrollen beider Stücke definitiv mehr Ausdruck als Technik brauchte, denn der Ausdruck konnte über mangelnde Technik hinwegtäuschen, ein fehlender Ausdruck konnte dagegen die ganze Figur fehlinterpretieren. 
Zudem war Melissa lang und schlaksig und dünn wie eine Bohnenstange. Sie war sogar einige Zentimeter größer als er. Wie sollte er da Hebungen tanzen können? Er würde sie mächtig hoch heben müssen, damit es gut aussah. Scarlett dagegen schien die perfekte Größe zu haben. Er war sich jetzt schon sicher, dass er viel lieber mit Scarlett tanzen wollte, obwohl er noch mit keiner der beiden getanzt hatte.
In Gedanken versunken sah er gar nicht wo er hinlief, bis er plötzlich mit jemandem zusammenstieß. Cooper stürzte, aber er rappelte sich sofort wieder auf. "Ist alles okay?", fragte er den Jungen, mit dem er zusammengestoßen war. Dieser hatte dunkelbraunes fast schwarzes, kurzes Haar. Der nickte und stand auf. Mit einem selbstbewussten Lächeln streckte er die Hand aus. "Danke, ist alles okay. Ich bin David." Cooper schüttelte David die Hand und musterte ihn kurz. "Du tanzt aber nicht hier an der Schule mit, oder?", fragte er ihn. David schüttelte den Kopf. "Ich hab mal hier getanzt, aber letztes Jahr haben sie mich rausgeschmissen, weil ich zu schlecht war. Ich war mit einem Mädchen zusammen, die hier tanzt. Als ich rausgeflogen bin, war das ganz schön hart und ich musste mein Leben erstmal sortieren und hatte deshalb wenig Zeit für sie. Sie hat von sich aus Schluss gemacht, weil sie Angst hatte, dass ich Schluss machen könnte und ihr so wehtun könnte. Sie ist bei so etwas sehr sensibel. Sie vertraut fast niemandem. Ihr Vertrauen muss man sich hart erkämpfen. Ich hatte es und habe es einfach weggeschmissen. Jetzt will ich mich bei ihr entschuldigen." David schien kaum Luft holen zu müssen, während er redete. Überrumpelt von seiner Redefreudigkeit nickte Cooper einfach nur. "Wenn es dir aufrichtig Leid tut, wird sie dir bestimmt verzeihen. Auch wenn du meinst, dass sie sehr kritisch ist. Aber vielleicht verzeiht sie dir gerade deshalb. Du hattest ihr Vertrauen, sie muss dich also ehrlich geliebt haben." David lächelte. "Danke! Jetzt hab ich schon ein besseres Gefühl Scarlett gegenüber zu treten." Dann ging er den Flur hinunter, den Cooper gerade heraufgekommen war. Scarlett?, dachte er. Doch nicht etwa die Scarlett von eben? Dann ging er zum Essen.

on Pointe Shoes (fertig und überarbeitet)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt