Prüfungen II

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"Hey, ich muss mal mit dir reden. Ich hab jetzt viel zu tun. Wie wärs nächsten Dienstag vorm Stadtcafe?"

Scarlett las die Nachricht einige Male. Nächsten Dienstag? Da war ihr Geburtstag. Warum wollte er ausgerechnet da mit ihr reden? Und vor allem worüber? Das klang fast wie nach Schluss machen. 
Schließlich schrieb sie, ohne ihn noch zu fragen 'ok'.  Sie hatte jetzt definitiv andere Sorgen als David. Sollte er doch so viel um die Ohren haben, wie er wollte. Wenn er nicht sprach, dann sie erst recht nicht. 
Als Sca das Handy weglegte viel ihr auf, dass ihre Hände ein wenig zitterten. Langsam kam die Aufregung. Es war das letzte große Vortanzen. Seit ihrer Kindheit hatte sie auf diesen Moment hingearbeitet. Es hatte nie etwas außerhalb des Balletts gegeben. Wenn Sca es nicht schaffte, die Leute vom Theater zu überzeugen, war sie sich dennoch sicher, dass es nichts mit der Tanzkarriere werden würde. Sie war nicht dazu geschaffen, quer durch das Land zu reisen und auf einen Platz im Corps zu hoffen. Noch dazu wo dieses schwerelose Gefühl nur noch so selten kam und sich bei jeder Bewegung schwer wie ein Elefant vorkam. Ihre Gedanken kreisten oft um die Welt außerhalb der des Balletts. Sca hatte vor zu studieren, wenn sie nicht am Theater genommen wurde. Am liebsten Grafik-Design. Gleichzeitig erschien es ihr absurd, an einer normalen Uni in einem normalen Leben zu studieren. 
Wieder einmal versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre ein ganz normales Mädchen zu sein. Manchmal hatte Scarlett das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Und zwar etwas sehr entscheidendes. Sie wusste nur nicht was.
Die nächsten Stunden bis zum Vortanzen verbrachte Scarlett damit, dass sie versuchte sich irgendwie abzulenken, auch wenn ihr das nicht ganz gelang. Eine Stunde vorher ging sie dann mit klopfendem Herzen zum Aufwärmraum. Es war noch niemand da. Natürlich, wer kam schon eine Stunde früher? Konzentriert begann sie, sich aufzuwärmen, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie dachte seit langem mal wieder an ihre Mutter, die in Südamerika lebte, sodass es für Sca unmöglich war, sie spontan anzurufen. Ihre Mutter hatte einen fast unersättlichen Drang nach Abenteuer und Herumreisen. Das war auch der Grund, weshalb Scarletts Vater sie verlassen hatte. Sie hatte immer nur hinaus gewollt in die weite Welt. Ein Leben in geregelten Bahnen, mit festem Einkommen und einem festen Zuhause war für sie immer den Inbegriff von Gefängnis gewesen. Irgendwo tief in sich spürte auch Scarlett diese gewaltige Neugierde, das Fernweh, das Bedürfnis, ins Ungewisse zu ziehen. Doch als Kind war sie einfach nur oft einsam gewesen und hatte ihre Mutter verwünscht. Bis schließlich die Ballettschule ihre Familie geworden war und Kira so etwas wie ihre Schwester. "Scarlett, du bist jetzt dran." Hörte Sca irgendwann die Stimme von Miss Thinder sagen. Wie durch Watte drang sie zu ihr. Sie ließ ihre Gedanken ziehen und bemühte sich um Fokus. So viel rumorte in ihr, so viele Gedanken drängten in ihren Kopf und rasten in endlosen Schleifen darin herum. Scarlett spürte wie unregelmäßig sie atmete, als sie auf Miss Thinder zuging. Ihr Herz pochte mit jedem Schlag, als wolle es ihre Brust sprengen. Diese lächelte ihr aufmunternd zu und führte sie dann in den Prüfungsraum. An einem Tisch saßen drei Leute, ein vierter Stuhl war frei. Auf diesem ließ sich Miss Thinder nieder. Scarlett stellte sich in die Mitte des Raumes und versuchte das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Sie war selten so aufgeregt gewesen. Als die ersten Töne der Musik erklangen, begann Scarlett zu tanzen.

Scarlett endete mit einer Arabesque, dann zog sie das Bein durch die erste Position. Das Gefühl der Schwerelosigkeit war nicht gekommen, aber Sca hatte keine großen Fehler gemacht, nur ein paar kleine. Sie hoffte, es würde reichen, oder doch nicht? Vielleicht war sie sogar froh, wenn der allgegenwärtige Druck einfach nur ein einziges Mal von ihren Schultern genommen würde. Sie war sich nicht sicher, was sie eigentlich wollte. Ihr Kopf schmerzte von dem vielen Denken, den vielen Verwirrungen. Einer der Prüfer nickte und sagte "Danke", dann verließ Sca rasch den Raum. Es würde nicht lange dauern, bis die Ergebnisse bekannt waren. 

on Pointe Shoes (fertig und überarbeitet)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt