Der Auftritt

1.3K 78 1
                                    

Scarlett hatte zwei Blasen an den Füßen. Ein Haar kitzelte sie im Gesicht, seit Kurzem schmerzte ihr Knie und die Scheinwerfer, die die Bühne hell erleuchteten, blendeten sie.
Als diese kleinen Problemchen vergaß Sca, sobald sie anfing zu tanzen. Ihr Füße flogen über den Boden. Die Musik war wie ein Fluss, von dem Scarlett mitgerissen wurde. Sie wurde herumgewirbelt, aber es war richtig. Dieses Gefühl, sich völlig zu verlieren während man tanzte, das war richtig. So musste es sich anfühlen. Sca hatte es schon lange nicht mehr so intensiv gefühlt. Doch weil sie alles um sich herum vergaß, bemerkte Scarlett auch nicht das schmale Seidenband, das sich vermutlich von einem Kostüm gelöst hatte und nun trügerisch glatt auf dem Boden lag. Sca spürte, wie sie auf ihren Spitzenschuhen ausrutschte und ins Straucheln geriet. Sie sah wie der Boden näher kam, aber noch immer befand sie sich völlig im Rausch des Tanzens, taumelte weiter und hielt die Arme in Position. Ihr Atem dröhnte in ihren Ohren und das Blut rauschte so laut, dass sie die Musik kaum noch hörte. Im letzten Moment konnte sie sich abfangen und stand mit dem Ausklang der Musik in ihrer Endposition, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Mit einem Mal schien jemand wieder die Geräusche angeschalten zu haben. Auch das Licht schien wieder heller zu werden, als hätte jemand einen Schleier weggezogen. Applaus brandete Sca entgegen und sie lief nach einem kleinen Knicks elegant von der Bühne. Ihr war gar nicht richtig bewusst, dass sie gerade beinahe hingefallen wäre. Erst als ihr teilweise erschrockene, teilweise besorgte Gesichter entgegensahen, realisierte sie, was gerade geschehen war. Da kam auch schon Miss Thinder auf sie zugestürzt. "Ist alles in Ordnung? Das sah gefährlich aus. Ich darf mir gar nicht ausdenken, was alles hätte passieren können..." Sca nickte nur und murmelte "Mir gehts gut" bevor sie zu den Umkleiden lief. Überall liefen ihr Schüler entgegen. "...hingefallen." "...Band lag auf dem Boden....hoffentlich weg....noch mehr passiert." "...Karriere vorbei sein können..." Erleichtert stieß sie die Tür zur Umkleide auf, froh von dem Getuschel wegzukommen. Zwei andere Mädchen waren noch da, die nun aufsprangen, aber bevor sie irgendetwas sagen konnten, sagte Scarlett: "Fragt nicht. Bitte. Mir geht es gut, es ist nichts passiert." Die beiden schlossen ihre Münder wieder, dann drängten sie sich an Sca vorbei und sie war alleine in dem kleinen Raum. Auf einmal kam ihr die Stille unheimlich vor. Draußen lief ab und zu jemand vorbei, aber man hörte kaum Stimmen. Scarlett hustete laut und lächelte sich aufmunternd im Spiegel zu.

Der Rest der Aufführung verging wie im Flug, oder zog er sich doch in die Länge? Scarlett wusste es nicht mehr. Sie war nur froh, als sie endlich zum finalen Verbeugen auf die Bühne ging. Hoffentlich sah man in dem Scheinwerferlicht nicht, wie rot sie war. Im Nachhinein war es ihr furchtbar peinlich. Der Applaus brandete ihr entgegen. Es war ein wunderbares Gefühl vor sich ein Meer aus Gesichtern zu sehen, die strahlten und anerkennend nickten. Mit einem Lächeln auf den Lippen verneigte sie sich zusammen mit den anderen ein weiteres Mal anmutig. Dann fiel der Vorhang. Im Gewühl, das nun hinter der Bühne entstand, versuchte Scarlett Kira zu finden. Das gelang ihr nicht, dafür entdeckte sie Cooper. Der hatte sie auch schon bemerkt und winkte nun. Mühsam kämpfte sie sich einen Weg in seine Richtung, aber als sie sich ein weiteres Mal umsah, war sein helles Haar verschwunden. Verwirrt drehte sie sich um-und zuckte erschrocken zusammen, als Cooper direkt hinter ihr stand. "Erschreck mich doch nicht so", rief sie über das Stimmengewirr hinweg. "Sorry", erwiderte Cooper  mit einem schiefen Grinsen. "Das sah echt krass aus, als du ausgerutscht bist. Jeder hat schon fest damit gerechnet, dass du hinfällst und dann stehst du plötzlich wieder lächelnd da." Sca zuckte nur lächelnd die Achseln. Im Strom der Ballettschüler wurden die beiden zu den Umkleiden mitgerissen. Erst da löste sich das Chaos endlich auf. "Bis dann", rief Cooper, aber Sca schüttelte den Kopf. "Ich komm erst später nach." Ich treff mich noch mit jemandem, fügte sie in Gedanken hinzu. Hoffentlich. Bei dem Gedanken an Jeremy machte ihr Herz sofort einen Sprung und begann wieder zu rasen. Cooper wirkte enttäuscht, nickte aber und verzog sich in seine Einzelkabine. In der Umkleide schlüpfte Scarlett rasch aus ihrem Kostüm. Dann schminkte sie sich ab, entfernte die künstlichen Wimpern und löste ihren strengen Dutt. Dann warf sie alles in die Tasche und hechtete aus der Umkleide. Über einen schmalen Flur gelangte sie in die Eingangshalle des Theaters. Die meisten Besucher waren bereits gegangen, aber sofort entdeckte sie denjenigen, den sie unbedingt sehen wollte. Ihr Herz machte einen unerhört hohen Sprung. Jeremy lehnte lässig an der Wand. Einen Fuß hatte er an einer Säule abgestützt. Seine dunklen Haare ware nach oben gestylt und er trug einen Anzug! Eine schwarze Hose, schwarze Lackschuhe, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Das Sakko hatte er entspannt über der Schulter hängen. Scarlett konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, so sehr sie auch auf ihren Lippen herumbiss. Sobald er sie sah, stieß sich Jeremy von der Wand ab und trat mit einem schiefen Grinsen auf sie zu. "Du weißt gar nicht, wie ich erschrocken bin", sagte er mit rauer Stimme. Sca war sofort klar, was er meinte. "Auch hallo", sagte sie lächelnd. "Es ist ja nichts passiert." Jeremy nickte und strich ihr sanft eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich trotz Haarspray gelöst hatte. "Wie wärs, hast du Lust noch etwas essen zu gehen?" Sca nickte sofort, nur um sich dann die Frage zu stellen, ob das jetzt zu voreilig gewesen war. Aber Jeremy lächelte und legte wie zufällig einen Am um sie, während sie nach draußen gingen. Sofort begann Scarletts Puls wieder zu rasen, und die Stelle, an der Jeremys Arm lag, begann zu kribbeln. So sehr sich Sca auch bemühte, es gelang ihr nicht, entspannt weiterzulaufen. Hoffentlich bemerkte Jeremy nichts, sonst würde er am Ende noch seinen Arm wegnehmen. Es war einerseits ein wunderbares Gefühl, andererseits auch seltsam, da sie ihn ja kaum kannte. Das würde sich hoffentlich heute Abend ändern. Sie traten hinaus in die kalte Nacht und liefen nebeneinander die Treppenstufen hinunter. Sca spürte zahlreiche Blicke auf sich. Besonders von Frauen. Kein Wunder, bei dieser Begleitung.

on Pointe Shoes (fertig und überarbeitet)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt