Scarlett wachte auf und das erste was sie hörte, war der Regen, der gegen ihr Fenster donnerte. Heute war der große Tag. Ihr Herz begann zu rasen und sie musste ein paar mal tief Luft holen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann verließ sie widerstrebend die Wärme des Bettes. Im Bad blickten ihr ein paar verschlafene Augen entgegen, dazu völlig zerzauste Haare. Ohne dem Spiegel noch weiter Beachtung zu schenken, stieg Sca in die Dusche.
Eine halbe Stunde später war sie frisch geduscht und hatte unter dem dicken schwarzen Pulli bereits ihre Ballettsachen an. Auf dem Flur liefen Schüler jeden Alters hektisch hin und her. Die Jüngeren trugen Schuhe und Kostüme, die Älteren gaben Anweisungen. Sca kämpfte sich durch das heillose Durcheinander, bis der Flur wieder etwas leerer wurde. Rechts neben ihr verlief eine Fensterfront. Für gwöhnlich war es äußerst deprimierend, wenn der Regen an den Fensterscheiben hinunter lief und die Welt dahinter in Grau versank, aber heute empfand Scarlett es als angenehm ruhig und gleichmäßig. Soblad sie an heute Abend dachte, begann ihr Herz zu rasen. Das lag allerdings nicht nur an Jeremy. Langsam war Scarlett klar geworden, dass es auch ganz normale Aufregung war. Der Frühstückssaal wirkte leer, aber das konnte auch daran liegen, dass die Flure im Gegensatz so überfüllt waren. Bald darauf erschien Kira. Die beiden Mädchen wechselten ein paar Worte, aber bald musste sich Sca wieder verabschieden. Vor dem Abend hatte sie noch eine Menge zu tun.
Der Tag schien Scarlett zwischen den Fingern zu zerrinnen. Inzwischen war sie eine von denen, die hektsich in den Fluren auf und ab liefen und Sachen hin und her schleppten. Um 16.00 Uhr würden die Solisten mit dem Bus zum Theater fahren und bis dahin war es nicht mehr lange. Nachdem Sca sich neue Spitzenschuhe geholt hatte und daran die Bänder festgenäht hatte, eilte sie nun zur Schneiderin, die ihr Kostüm hatte enger nähen müssen. Die alte Dame blickte hinter ihrem Schreibtisch auf, als Sca hereinkam und nickte. Dann überreichte sie ihr ein hellgrünes Kleid. "Zieh es noch einmal an." Sca nickte und schlüpfte in den leichten Stoff. Das Kleid fühlte sich gut an. Oben war es eng anliegend und mit dunkelgrünen Steinen verziert. Der Rock war weit und bauschig Es war nicht einfach damit zu tanzen, aber man fühlte sich wunderbar. Wie eine Waldelfe. Die Dame nickte, sodass ihre grauen Locken hüpften. "Sieht gut aus." Scarlett nickte, bedankte sich und eilte dann zurück auf ihr Zimmer. In Windeseile packte sie Spitzenschuhe, Schläppchen, eine zweite Strumpfhose, Haarspray und alles was sie sonst noch brauchte in ihre Tasche. Dann verstaute sie das Kleid in einer Hülle und trat wieder hinaus auf den Gang, der inzwischen wie leer gefegt war. Mit zügigen Schritten trat Scarlett hinaus auf den Hof und rannte durch den Regen auf den Bus zu, der vor dem offen stehenden Tor bereitstand. Dichte graue Wolken hingen am Himmel und der Hof war voller Pfützen, auf denen die prasselnden Tropfen immer wieder einen kleinen Sturm auslösten. Der Busfahrer starrte gelangweilt aus dem Fenster, aber Miss Thinder, die mit einer Liste dastand, wirkte nervös. Sie nickte und setzte mit einer fahrigen Bewegung einen Haken hinter Scarletts Namen. Zu Scas Erleichterung winkte ihr Cooper zu, sobald sie ihn entdeckt hatte. Er saß nicht neben Melissa. Sca hatte schon befürchtet alleine sitzen zu müssen, aber diese Befürchtungen hatten sich nun in Luft aufgelöst. Cooper fing ein belangloses Gespräch an und bald konnte Scarlett ihre wachsende Aufregung vergessen.
Der Bus kam vor dem imposanten Theater zum Stehen. Eine breite Treppe führte zu dem mächtigen Holzportal, an dem links und rechts hohe Säulen aufragten, die das Dach vorne stützten. Das Portal war reich verziert mit Schnitzereien und so schwer, dass es ein normaler Mensch alleine nicht aufbekam. Im Vergleich zu den Säulen und dem Dach wirkte das Tor ganz normal, aber sobald man davor stand, sah man, dass es um die fünf Meter hoch war. Die Tänzerinnen und Tänzer benutzen allerdings einen kleinen Seiteneingang, der gleich zu den Garderoben führte. Auch dieser Eingang wurde durch eine verzierte Holztür verschlossen, die aber bei Weitem nicht so schwer wie das große Tor war. Das Portal vorne führte in die gewaltige Eingangshalle des Theaters, hinter der gleich der Zuschauerraum lag. Der Boden dort war mit Marmor ausgelegt und marmorne Säulen schraubten sich elegant in die Höhe, um ein mit Fresken bemaltes Gewölbe zu tragen. Jede Säule mündete in filigrane Kapitelle, die mit Blattgold verziert waren. Nur über einen schmalen Flur kam man von dieser Halle aus zu den Umkleiden der Tänzer und der Weg war deutlich länger, als wenn man gleich den Seiteneingang nahm.
Scarlett musste sich die Umkleide mit fünf anderen Mädchen teilen. Aber das war in Ordnung, da man so immer jemanden hatte, mit dem man sich unterhalten konnte, wenn die Aufregung allzu groß wurde. "Ich bin so aufgeregt.", beklagte sich da auch schon Conny. Sie war zwei Jahre jünger als Sca und dementsprechend unerfahren. Es war ihre erste Aufführung, bei der sie eine kleine Solorolle übernehmen durfte. "Das wird schon. Sobald du anfängst zu tanzen, vergisst du alles", versuchte Scarlett sie zu beruhigen. Sie hängte ihr Kostüm an die dafür vorgesehenen Stange. Als sie die Schminksachen aus ihrer Tasche holte, bemerkte sie, wie sehr ihre Finger zitterten. Das lag allerdings weniger daran, dass sie vor dem Auftritt nervös war, sondern sie war aufgeregt davor Jeremy-wenn er kam- wiederzusehen. Das konnte ja noch heiter werden, wenn sie ständig zwischen Lampenfieber und Jeremy-Panik schwankte.
Die letzte Bühnenprobe verlief ganz gut und dann mussten sie sich auch schon schminken. Mit geübten Griffen trug Sca Make up, Lidschatten, Lidstrich, Rouge und Lippenstift auf und klebte die künstlichen Wimpern auf ihre Augen. Da ertönte ein Gong. In zehn Minuten begann die Aufführung. Scarlett sprühte noch einmal Haarspray, dann schlüpfte sie in ihr Kostüm. Der zweite Gong ertönte. Sca band sich ihre Schuhe enger, dann rannte sie los. Gerade als der letzte Gong ertönte, kam sie hinter der Bühne an. Jetzt hatte sie genau zwei Minuten vierunddreißig Sekunden Zeit, bis sie auf die Bühne musste. Während Sca Relevés machte, versuchte sie ihre wachsende Nervosität in den Griff zu bekommen. Sie blendete die einsetzende Musik aus und ignorierte die hastig vorbeilaufenden Tänzer. Dann winkte ihr der Typ neben der Bühne. Sie stellte sich neben ihn und dann eilte sie mit eleganten Schritten in die Mitte der großen Bühne.
Die Zuschauer lagen im Dunkeln. Für einen ganz kurzen Moment herrschte Stille, in der sie ihr eigenes Herz pochen hörte. Die ersten Töne erklangen und Scarlett begann zu tanzen...
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on Pointe Shoes (fertig und überarbeitet)
RomanceScarlett lebt in einer Ballettschule. Sie liebt das Tanzen so sehr wie nichts, aber der Ballettalltag bietet ebenso Herausforderungen, wie das ganz normale Leben einer jungen Frau. Wo ist der Weg, der für sie bestimmt ist?