Rückkehr in vertrautes Gebiet

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Scarlett lief langsam den Weg zur Ballettschule entlang. Wie ein großes, schlafendes Tier lag das Gebäude in der Dunkelheit da. Links erstreckte sich der gläserne Essenssaal, direkt vor ihr ragte das Gebäude mit den Schlafsälen auf und rechts stand der massive Flachbau mit den Trainingsräumen und der Gymnastikhalle. Die Stille, von der es umgeben war, war beinahe ein wenig unheimlich, aber Sca war mit ihren Gedanken ganz woanders, sodass es sie gar nicht weiter störte. Natürlich dachte sie an Jeremy. An seine dunklen, gestylten Haare und die eisblauen Augen, die so ein krasser Kontrast zu den Haaren waren und doch keinerlei Kälte ausstrahlten. Sca war so in Gedanken versunken, dass sie gegen die Glastür, die zum Wohnbereich führte, knallte. Das Geräusch katapultierte sie zurück in die Gegenwart. Mit einem leisen Wimmern fasste sie sich an den Kopf und hielt sich im nächsten Moment selbst den Mund zu. Erschrocken ließ sie ihre Augen über das Gelände schweifen, das schwarz vor ihr lag und sie lauschte jedem noch so kleinen Geräusch, ob es vielleicht ein Lehrer war, der jeden Moment nachschauen würde, was so einen Lärm verursacht hatte. Aber alles blieb ruhig. Zum Glück. 

Ein wenig widerstrebte es ihr in das Gebäude zurückzukehren. Es kam ihr manchmal fast wie ein Käfig vor, der alle Insassen vollkommen von der Außenwelt abschirmte. Von der Realität, vom Leben. Es war kein brutales Abschirmen, aber kontinuierlich und beharrlich und dann trat man vor die Tür und die Welt hatte sich plötzlich weitergedreht. Schließlich zog sie doch die Glastür auf. Zum Glück kam man mit dem Internatsausweis zu jeder Stunde noch herein. Drinnen schlug Sca sofort der vertraute Geruch entgegen: es roch nach Holz und ein wenig muffig. Auch das Surren der Notbeleuchtung war vertraut. Früher hatte all das Geborgenheit und beinahe Heimat bedeutet, aber jetzt fühlte sich Scarlett unbehaglich. Etwas schien ihr das Atmen zu erschweren.  Dieses Gebäude war schuld, dass sie so wenig von ihrer Kindheit hatte ausleben können und so viel verpasst hatte. Sie wollte endlich leben! Sie wollte hier raus! Sie wollte endlich frei sein und ihre Tage selbst gestalten können. Sie wollte selbst entscheiden, wann sie aufstand und wieder ins Bett ging, wann sie lernte und wann sie aß. Ein wenig erstaunt über die Verzweiflung, die da aus ihr sprach, kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Keiner begegnete ihr auf dem Flur.

on Pointe Shoes (fertig und überarbeitet)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt