niedlich

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Niedlich.
Das war das Wort, was Mycroft Holmes durch den Kopf ging, seit sein Bruder in seinem Büro gewesen war.

Das „Niedlich" bezog sich aber nun beileibe nicht auf seinen Bruder. Sherlock ... Mycroft schnaubte belustigt. Der war ja durchaus ein hübsches Kind gewesen, aber das war lange lange her und jetzt, als mehr oder weniger Erwachsener Mann war er nur noch nervtötend.
Sherlock allerdings hatte von DI Lestrade gesprochen.
Er war unter einem ziemlich fadenscheinigen Vorwand in Mycrofts Büro aufgetaucht und nach kurzem hin und her hatte der ihn gefragt:
„Sherlock, was willst du?"

Sherlock hatte ihn kurz angesehen und gesagt:
„Ob du es glaubst oder nicht, großer Bruder, ich möchte, dass du in deinem Leben in bisschen Glück findest. Und sei es nur, weil du mir nicht so auf die Nerven gehst, wenn du anderweitig ausgelastet bist. Deshalb nur folgendes: DI Lestrade ist ein Mensch, der in seiner Ehe viel zu wenig Fürsorge erfahren hat. Wer ihn erobern möchte, sollte sich um ihn kümmern und zeigen, dass er sich um sein Wohlergehen sorgt."
„Nun, Sherlock, ich wüsste nicht, jemals ein diesbezügliches Interesse bekundet zu haben."
„Ach Mycroft, du vergisst, mit wem du sprichst. Ich bin im Deduzieren nicht einen Deut schlechter als du, ich denke sogar, dass ich deutlich besser bin ..."
„Nun, dann denk das ..."
„ ... und ich sehe, dass du ihn willst. Und ich sehe, dass auch er, wie John sagen wurde, „auf dich steht", und daher solltest du uns beiden einen Gefallen tun und die Sache in die Hand nehmen."
„Sherlock, bitte verlass mein Büro. So sehr ich deine Gegenwart schätze, schätze ich es doch noch wesentlich mehr, wenn man mich in Ruhe meiner Arbeit nachgehen lässt."
„Ja ja, meinetwegen, rette die Welt, wenn du es nicht lassen kannst, aber nach Feierabend kümmere dich um Gavin ...Graham ... na du weißt schon."
„Sherlock!"
Daraufhin hatte sein Bruder grinsend das Büro verlassen.

Seitdem spukte DI Lestrade in Mycroft Holmes' Gedanken herum.
Niedlich.
Dieses freche, spitzbübische Lächeln, dass das Gesicht des Polizisten überzog, wenn er sich über etwas amüsierte. Ja, das fand Mycroft nun einmal niedlich, er konnte einfach nicht anders.
Es zeigte einen Blick auf die Seele des anderen; zeigte eine gewisse Warmherzigkeit ...

Er kannte Lestrade so lange, wie der seinen Bruder kannte.
Natürlich hatte Mycroft den Polizisten überprüfen lassen, als der begonnen hatte, mit Sherlock zu arbeiten. Jeder, der in Sherlocks Leben ein Rolle spielte, wurde von ihm beziehungsweise seinen Mitarbeiten durchleuchtet.
Er hatte ihn kennengelernt als loyalen, hilfsbereiten Polizisten, als freundlichen, gutherzigen Menschen.
Er schätzte ihn zutiefst.
Ja, und er mußte vor sich selber zugeben ... es war mehr als das.
Er mochte ihn noch auf eine ganz andere Weise.

Mycroft wusste seit frühester Jugend, dass Frauen für ihn kein Thema waren. Er interessierte sich auf sexuellem Gebiet ausschließlich für Männer. In seiner Jugend hatte er eine feste Beziehung gehabt, bei deren Zerbrechen er lange gelitten hatte. Es hatte ihn fast zerrissen, doch als er den Schmerz überwunden hatte, hatte er sich geschworen: nie wieder.
Seitdem hatte er Affären gehabt, diskret, unbedeutend, aber er hatte nie wieder jemanden an sich heran gelassen. Er hatte alle Energie auf die Arbeit geworfen.
Und der Erfolg gab ihm ja wohl recht:
Man brauchte sich doch nur anschauen, wo er heute war. Nach außen hin ein unbedeutender Beamter. Aber in Wahrheit zog er hinter den Kulissen für vieles die Fäden. Er war eine Art graue Eminenz, und die Macht und der Einfluss, die er besaß, waren seine Belohnung,
Er schmunzelte. Sein Bruder hatte mal behauptet, er wäre mit seiner Arbeit verheiratet ... nun, das traf auf ihn, Mycroft, mindestens genau so sehr zu.

Sein Schmunzeln geriet jedoch etwas schief, als er den Gedanken weiter spann.
Sherlock hatte das behauptet, um John abzuwehren, dessen Aussagen er in diesem Moment fälschlich als Avancen ausgelegt hatte. Er hatte diese Aussage vorgeschoben, da er sich über seine eigenen Absichten unsicher war.
Ging es ihm etwa ebenso ... ?
Außerdem hatte John, der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht an so etwas dachte, inzwischen geschafft, sich selber einzugestehen, dass er Sherlock liebte und Sherlock hatte ebenfalls ...
Die beiden waren ein Paar ...
Nun, nein. Er, Mycroft, musste nichts vorschieben.
Er war sich darüber im klaren, dass er DI Lestrade interessant fand. Immerhin fiel ihm beim Gedanken an ihn nach wie vor als erstes dieses Lächeln ein. Niedlich.
Aber ... er hatte weder Zeit noch Muße für eine Beziehung, die über ein paar Bettgeschichten hinausging. Und wenn er ehrlich wahr, bezweifelte er, dass der DI sich auf eine lockere Affäre einlassen würde, schon gar nicht mit ihm, dem Eismann höchstpersönlich; und außerdem war er ihm dafür ehrlich gesagt zu Schade. Ein Mann wir Lestrade hätte mehr verdient.
Und er war nicht bereit oder in der Lage, mehr als das zu geben...
Oder?
Hmmm ...

Er schüttelte den Kopf über sich selbst.
Was sollte ihn überhaupt veranlassen, zu glauben, der DI würde irgendetwas in dieser Richtung überhaupt mit ihm teilen wollen.
Die Aussage seines Bruders ... nun, da konnte man nicht viel darauf geben.
Sherlock brachte es fertig, ihn ins offene Messer laufen zu lassen, um sich dann daran zu weiden, wie er seine Wunden leckte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Auch wenn er glaubte, dass John ihm in einem solchen Falle gehörig einheizen würde.
John tat seinem Bruder gut, das stand außer Frage.
Der Doktor war, ähnlich wie Lestrade, ein Glückstreffer für Sherlock.
Seit es die beiden in dessen Leben gab, den einen als, ja, wie sollte man es nennen, Freund und Auftraggeber, den anderen erst als Freund, inzwischen als Geliebten, als Lebensgefährten, war es um ihn bedeutend ruhiger geworden, und er, Mycroft, musste sich wesentlich weniger Sorgen um den kleinen Bruder machen.
Und das, das musste er zugeben, machte sein Leben doch wesentlich entspannter.
Dafür war er dem kleinen blonden Doktor und dem Polizisten mit den wunderbaren Augen, braun wie frischer Kaffee, und dem niedlichen Lächeln, überaus dankbar.

Und wieder schmunzelte er über sich selbst.
Guter Gott, er dachte ja über Lestrade wie ein verliebter Teenager.
Na ja, das spielte keine Rolle, denken konnte er ja, was immer er wollte. Warum nicht auch ein bisschen schwärmen.
Aber dabei würde er es belassen.
Er würde nichts unternehmen, denn ... nein, es war gut so, wie es war.

Mit einem Lächeln wandte er sich wieder seinen Akten zu.
Konzentrierte sich auf die darin aufgezeichnete Probleme, während ihm ein letztes Mal das Wort durch den Kopf schoss:
„Niedlich."

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