1. Kapitel

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Michael sah auf den Wecker und dann durch sein Zimmer. Der Kalender war geziert von Kreisen. Alle Zahlen bis zur 19 waren rot umrandet. An diesem Tag musste also der 20. sein. Dem jungen Mann gefiel diese Art des zählens. Es war positiver als die Tage durchzustreichen. Es zeigte ihm, dass sie existiert hatten, auch wenn er sich nicht an sie erinnern konnte. Michael streckte sich und stand auf. Wie immer schaute er an seine Pinnwand. Dort stand, wann er auf Arbeit sein musste, was er mitnehmen sollte und wo sich diese befand. Weitere Informationen würde er dort auf seinem Schreibtisch finden. Er beschloss erstmal in die Dusche zu steigen und anschließend Zähne zu putzen. Seine Kleidung lag schon bereit. Fröhlich pfeifend machte er sein Frühstück. Dabei überlegte der junge Mann ob er seine Bücher lesen sollte. Jeder Mensch dokumentierte seine Erinnerungen. Wie er dies tat war ihm selbst überlassen. Ob nun per Videotagebuch, Sprachaufnahme, digital oder handschriftlich. Man sollte es von der Regierung aus tun. Um Erkenntnisse zu bewahren und völliges Vergessen zu vermeiden.

Michael hatte sein Frühstück beendet und stand vor dem Bücherregal mit den 22 Jahresbüchern. Bevor er es konnte hatte seine Mutter über seine Erinnerungen Buch geführt. Michael nahm das Buch des aktuellen Jahres 2045 aus dem Schrank und hielt inne. Er hatte gerade so gute Laune. Was war wenn es am gestrigen Tag Probleme gegeben hatte? Wenn sie ihm die Laune verderben würden? Er stellte das Buch zurück und beschloss ohne seine Erinnerungen auf Arbeit zu gehen. Wichtige Dinge hätte er sich doch bestimmt auf die Pinnwand geschrieben. Schließlich kannte er sich doch. Obwohl er selbst das nicht wissen konnte.

Jeder Tag brachte die Möglichkeit sich selbst kennen zu lernen. Michael nahm einen Zettel mit darauf liegenden Autoschlüsseln von der Komode. Die Notiz wies ihm den Weg. Auto fahren ging ganz automatisch und brauchte keiner zusätzlichen Erklärung. Der Wagen hatte die Route bereits eingespeichert. Auf dem Amaturenbrett lag eine Anweisung welche Firma es war und welches Büro ihm gehörte. Er las sie durch und legte sie anschließend zurück. Morgen würde er ihn wieder benötigen. Michael war schon bald an der Firma für Mikrotechnik und der Wagen suchte automatisch einen Parkplatz und hielt an. Der junge Mann stieg aus und betrachtete fasziniert das schöne Glasgebäude. Er freute sich so einen schönen Arbeitsplatz zu haben und machte sich auf den Weg in sein Büro.

Gerade als er seine eigenen Anweisungen und Erklärungen gelesen hatte klopfte es an seiner Bürotür. „Herein.", rief er. Ein Mann, gefolgt von einer jungen Frau, betrat das Büro. Er trug ein Namensschild, so dass Michael ihn als Chef mit dem Nachnamen Hühnefeld identifizieren konnte. Die junge Frau trug kein Namensschild und wenn sie eines hätte wäre es sicherlich von ihrem langen schwarzen Haaren verdeckt worden. Michael konnte sich zwar an keine anderen Frauen erinnern, doch irgendwie glaubte er, dass Haare bis zum Bauchnabel besonders lang sein mussten. "Guten Morgen Herr Miller. Diese junge Dame ist Frau Wegeland und beginnt hier heute ihre Ausbildung. Sie sind zwar noch nicht lange im Unternehmen tätig aber sie leisten gute Arbeit. Deshalb wird es ihnen nicht schwer fallen die neue Kollegin einzuarbeiten. Am besten sie fertigen gleich ein Namensschild an und zeigen ihr den Betrieb. Sollten sie die nötigen Unterlagen über unser Unternehmen nicht finden oder sonstige Komplikationen auftreten finden sie mich in meinem Büro." Er gab ihm einen Zettel mit der Lagebeschreibung. „Ich wünsche ihnen gute Zusammenarbeit.", sagte er und verlies die beiden.

Michael sah die Frau an. Sie sah sich im Büro um und machte Notizen. Er lächelte ihr freundlich zu und bot der Frau seine Hand an. Sie nahm diese zögerlich und versuchte sich auch an einem Lächeln. "Nenn mich doch einfach Michael.", sagte er. "Ich bin Mia. Schön, dass wir uns dutzen können. Vermerke es bitte irgendwo damit du es nicht vergisst." Diese Direktheit erstaunte Michael ein wenig. Er hatte das Gefühl, sich bei dieser Frau noch einiges vermerken zu müssen. "Okay das werde ich tun.", meinte er und ging auf das Regal mit seinen unzähligen Ordnern zu. An seinem Schreibtisch hing ein Zettel der ihm sagte hier würde er alles wichtige finden. Durch die gute Beschriftung kam so auch ein Lageplan zum Vorschein. Organigram mit allen Namen und dem Rang der Mitarbeiter war auch gleich beigefügt. Für ihn würde es auch wie die erste Besichtigung sein, obwohl er schon 2 Jahre hier arbeitete. Eines davon mit einem anderen Mitarbeiter als Ausbildung. Diese verlief ziemlich praktisch, da die Theorie aufgeschrieben war und die Tätigkeiten einfach in Fleisch und Blut übergehen sollten. "Ich würde sie, Entschuldigung, dich jetzt gerne herum führen." Sie schüttelte mit dem Kopf. "Du kannst mir doch auch einfach die Blätter kopieren. Dann weiß ich morgen genauso viel, als wenn ich wirklich mitgegangen wäre.", sagte sie. Michael wusste nicht was er von dieser Frau halten sollte. Sie war neu und gab ihm ständig Befehle. Er räusperte sich und kopierte dann einfach die Blätter. "Außerdem sollte ich ein Namensschild bekommen." Sie ging die Aufschriften der Ordner durch während sie sprach. Er musste über ihre direkte Art lachen. "Stimmt, wie konnte ich dass nur vergessen." Er suchte sofort in seinen Schubladen nach einem passenden Anstecker. "Man könnte meinen du verschwendest gern Arbeitszeit." Die Frau schnappte sich einen Ordner, blätterte kurz und lief dann zu einem Schrank neben dem Drucker. Dort zog sie die oberste Schublade auf und hielt triumphierend einen Anstecker hoch. Michael fuhr sich nervös durch die Haare. Er fragte sich ob er sich vor ihr warnen sollte oder lieber vergessen mochte, wie seine neue Kollegin war. Er wandte sich dem Pc zu und suchte die Vorlage für Namensschilder. Das Logo saß bereits an der richtigen Stelle und er ergänzte bloß den Namen. Sie positionierte sich bereits vor dem Drucker und wartete nur darauf ihr Namensschild fertigstellen zu können.

Der Drucker druckte das Schild und zerschnitt es automatisch. Mia legte ihren Anstecker in ein Fach und konnte kurz darauf ihr Namensschild entnehmen. Sie schaute in den Computer und befahl energisch "Kamera." Sofort schaltete sich die Webcam an und sie warf ihre Haare über die Schulter. Anschließend richtete sie ihr Schildchen. "Am besten zeigst du mir gleich mal wie man programmiert.", sagte sie schlicht. "Du sollst gut sein habe ich gelesen." Michael schaute gebannt auf die langen seidigen Haare welche über dem schlanken Körper lagen. Dann zwang er sich endlich mal seine Position klar zu machen. "Ich entscheide, wie ich dich am besten einarbeite. Es ist wichtig das wir mit den Unternehmensabläufen beginnen und einfache Grundlagen durchnehmen." Sie baute sich vor ihm auf. "Ich bin nicht hier für irgendwelche einfachen Grundlagen. Die hab ich schon drauf. Ich bin hier um deine Methoden zu erlernen." Michael stuzte und lies sich in seinen Sessel fallen. "Welche Methoden?", fragte er. "Du hast sehr gute Ansätze trotz deines Vergessens. Ich glaube nicht, dass es am stundenlangen studieren deiner Dokumentation liegt." Sie zuckte mit den Schultern. "Du hast es einfach drauf." Nun war Michael völlig verwirrt. Diese wunderschöne Frau vor ihm machte Komplimente. Gleichzeitig verstand er nicht wieso sie sich so aufspielte. Man konnte auch normal über seine Vorkenntnisse sprechen. Sein Blick fiel auf ihre Mappe. Die würde er sich wohl mal genau anschauen müssen. "Ich kann dir auch alles ansagen. Schließlich will ich wissen wer ich bin. Ich lerne diese doofe Mappe jeden Tag auswendig.", erzählte Mia und setzte sich auf den Schreibtisch. "Wirklich jeden Tag?" Michael lehnte sich im Stuhl zurück. Er wusste zwar nicht wie oft er in seinen Lebenslauf auswendig gelernt hatte aber er empfand keine Lust dazu es zu tun. Wenn er ihn brauchte konnte er die Daten vorlegen. Er schaute extra nochmal auf seine Liste neben dem Pc. "Ja so ist es. Ich habe mir extra einen Zettel gemacht um mich daran zu erinnern. Jeden Tag hoffe ich aufs neue etwas würde im Gedächtnis bleiben." Sie schaute nun ebenfalls auf die Liste und ihre Stimme war sanfter als vorher. Nach einer kurzen Pause sah sie ihn wieder an. In ihren blauen Augen lag ein Ausdruck, der Michael ein schlechtes Gefühl bereitete. "Ich hab Angst mich zu verlieren.", sagte sie leise. Michael verspürte das Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen. Doch die Vorstellung sie würde es sich notieren hemmte ihn irgendwie. Dennoch stand er auf und umarmte die junge Frau. Er würde es sich einfach nicht aufschreiben. Es war für ihn in diesem Moment das Einzige, dass er tun konnte. Mia versteifte sich überrascht aber schlang im nächsten Atemzug auch schon die Arme um ihn.

Die zwei Menschen kannten sich erst so kurze Zeit und hielten sich doch im Arm. Sie konnten sich auch nicht wirklich länger kennen. Am nächsten Tag würden sie einander vergessen haben. Doch jetzt konnten sie tun was sie für wichtig hielten. Mia löste sich zuerst wieder aus der Umarmung und wickelte nervös eine Haarsträhne um ihren Finger. "Äh...danke. Sorry ich bin sentimental geworden." Michael setzte sich wieder in den Bürostuhl und nahm ein paar Dokumente zur Hand. "Kein Problem.", meinte er und tat als würde er lesen. Seine Gedanken schweiften zu den vielen Selbsthilfegruppem. Manche Menschen verfielen immer wieder aufs neue in Panik, wenn sie den gestrigen Tag vergaßen. Einige wurden depressiv und sahen keinen Sinn mehr am Leben. Vielleicht sollte Mia sich Hilfe suchen. "Ich erkläre dir jetzt erstmal was ich schon weiß und was ich lernen möchte." Die junge Frau stand vom Schreibtisch auf und stemmte die Hände in die Hüften. "Ich habe sogar gleich eine Kopie mitgebracht." Sie legte diese auf dem Tisch und Michael bemerkte lächelnd den neonfarbenen Verweis auf dem oberen Seitenrand. Dort stand "Wichtig!" Na dann sollten sie gleich anfangen.


Amnesie - Gestohlene ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt