Kapitel 20

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„Hey lass", hörte ich Finn leise sagen. „Hey", erwiderte ich, ohne meinen Blick von den Baumsilhouetten abzuwenden.

„Zu viel los da drinnen?", fragte er und setzte sich neben mich. Ich nickte nur. „Hast wirklich du heute Mittag gesungen?" Ich schlug die Augen nieder. Ich hatte nicht gewollt, dass jemand mich hörte. Nicht, seitdem ich wusste, dass meine Eltern mich nie unterstützen würden.

„Sie haben mich noch nicht einmal angehört", meinte ich plötzlich verbittert. „Wer?"

„Meine Eltern. Ich singe seit Jahren. Ich war drei Jahre im Schulchor, habe diverse Auftritte mit dem Chor gehabt. Ich übe seit Ewigkeiten heimlich am Klavier meiner Mutter, begleite mich selbst beim Singen. Vor etwa einem halben Jahr habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich mich an einer Musical-Schule in Hamburg bewerben will. Dass ich ans Theater, auf die Bühne will, mein Hobby zum Beruf machen. Ich hatte ‚Moon River' gelernt, wollte sie damit überzeugen. Meine Mutter meinte, sie müsse das nicht hören, sie würde es ohnehin nicht gut heißen. Es hat mich all meine Überzeugungskraft und viel Drama gekostet, meine Mutter davon zu überzeugen, überhaupt mit meinem Vater darüber zu reden. Er hat sich nie die Mühe gemacht, mir persönlich zu erklären, warum er das nicht will. Warum sollte mich irgendjemand singen hören wollen, wenn nicht mal meine Eltern das wollen?"

Finn schaute eine Weile genauso gen Horizont, wie ich. „Ich würde dich gerne singen hören. Du hast ein ungeheures Talent beim Tanzen, eine Wahnsinnsbühnenpräsenz. Das, was ich heute von ‚A Whole New World' gehört habe, war großartig. Wenn ich Musicalregisseur wäre, würde ich dich engagieren!" Finn sprach diese Worte mit so viel Überzeugung und Elan, dass es mich tatsächlich zum Lachen brachte. Schnell wurde ich jedoch wieder ernst.

„Ich habe das noch niemandem erzählt, nicht einmal Alessia. Ich weiß nicht, warum ich es dir erzählt habe. Ich wollte mich nicht bei dir ausheulen." Ich stand auf und klopfte meine Hose ab. Finn erhob sich ebenfalls und als ich mich in Richtung Terrassentür wandte, hielt er mein Handgelenk fest.

„Du darfst dich immer bei mir ausheulen, lass. Ich sage das, was ich gleich sagen werde, nicht häufig, aber wenn ich es sage, ist es ernst gemeint: Ich mag dich wirklich gern. Wie gern, weiß ich noch nicht, aber gern genug, um sagen zu können, dass ich für dich da bin okay?" Er zog mich kurz in seine Arme und legte sein Kinn auf meinen Kopf. „Jetzt weiß ich, warum ich das nicht so oft sage,", meinte er und ich merkte bei jedem Wort wie er sprach, weil sich sein Kinn auf meinem Scheitel bewegte. „Es klingt immer so furchtbar kitschig!" Ich lachte leise und merkte, wie seine Brust anfing zu beben, als auch er zu lachen begann.

„Lass uns reingehen, lass, es wird kalt." Er zog mich, noch immer einen Arm um meine Schulter gelegt, wieder hinein.

Drinnen hatten einige aus Finns Clan (ich nannte es jetzt so, weil es mit all den Tanten, Onkel, Kusinen, Cousins, und diversen Angeheirateten tatsächlich was von einem Clantreffen hatte), begonnen Musik zu spielen. Ein Onkel spielte Fidel, eine Kusine (glaubte ich, vielleicht war es auch eine Tante) spielte am Klavier und ein besonders kreativer Onkel klopfte auf einem Mülleimer den Rhythmus zu der fröhlichen Melodie. Ohne Pause spielten sie einige Stücke und spätestens beim zweiten wurde der Tisch an die Wand gerückt und einige begannen zu tanzen. Julian, Chris, Luka, Kilian und ich saßen ein bisschen abseits und schauten dem bunten Treiben zu. Finn war nach unserem Gespräch verschwunden, doch jetzt sah ich ihn mit einer seiner Kusinen tanzen. Es sah wirklich lustig aus, wie der große Finn mit seiner vielleicht zwölfjährigen Kusine tanzte.

„Ich habe immer gedacht, es seien die Iren, die permanent spontan singen und tanzen!", meinte ich zu Kilian, der zustimmend nickte.

„Dachte ich auch. Bis ich Finns Familie kennengelernt habe! Die sind alle so. Bis auf Cailin, Finns Schwester." „Ist sie hier?", fragte ich verwundert und blickte mich um. Kilian deutete auf ein rothaariges Mädchen, das noch weiter abseits saß, als wir und auf ihrem Handy herumtippte. Sie sah auf den ersten Blick komisch aus, das Gesicht wirkte ein bisschen zu breit, die Wangenknochen zu hoch, die Augen zu auffällig, doch je länger ich hinsah, desto interessanter wurde Cailins Gesicht. Irgendwann schaute sie hoch und blickte mir direkt ins Gesicht. Sie guckte nicht neutral, oder grüßend, nein, in ihrem Blick lag definitiv Abneigung, fast schon Abscheu. Was hatte ich diesem Mädchen getan?

„Wie alt ist sie?", fragte ich Kilian und der zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, sie ist ein bisschen älter als Finn. So zwanzig. Studiert irgendwo weiter weg irgendwas Sprachliches. Sie redet nicht viel mit uns und Finn spricht nicht viel über sie." Aha... Im nächsten Moment war der Gedanke an Cailin eher hintergründig, denn Finn stand plötzlich vor mir und hielt mir auffordernd die Hand hin. Ich blickte zu Kilian, sah, dass Julian und Luka weg waren und Kilian gerade von Catriona angesprochen wurde.

Achselzuckend nahm ich Finns Hand und ließ mich auf die improvisierte Tanzfläche ziehen.

Nach einiger Zeit merkte ich, wie mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte und mein Blick fiel auf die große Uhr über dem Kamin. Schon viertel nach zehn. „MIST!", fluchte ich, stürzte aus den tanzenden Menschen und zog mein Handy aus der Tasche. Finn war mir gefolgt und schaute mich fragend an. „Meine Eltern!", erklärte ich mit einem Blick auf mein Handy. Noch während ich das Gespräch annahm meinte Finn: „Sag ihnen, du schläfst hier. Kilian pennt auch hier und so wie es gerade aussieht, auch Julian und Chris." Ich hatte das Gespräch mittlerweile entgegen genommen und hörte mir bereits eine Standpauke meiner Mutter an.

„Warte, Mama, warte bitte, hör mir eben zu. Ich habe vergessen euch anzurufen, es tut mir Leid. Ich bin bei McCollums auf einer Feier, sie wird wohl noch eine Weile dauern, Catriona, also Mrs.McCollum, hat mich eingeladen im Gästezimmer zu übernachten!" Der Name McCollum wirkte Wunder. Meine Mutter willigte sofort ein und wünschte mir noch viel Spaß. Wie gut, dass ich ihr nicht gesagt habe, dass Finn mich eingeladen hat und noch drei andere Jungs hier schlafen würden. Meine Mutter hätte unter diesen Bedingungen vielleicht nicht so schnell zugestimmt. Ich steckte das Handy wieder in meine Hosentasche und drehte mich zu Finn um, der mir tatsächlich bis in den wesentlich leiseren Flur gefolgt war.

„Ich habe keine Zahnbürste", war alles, was mir einfiel und Finn fing schallend an zu lachen.   

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Wenn das kein Knistern war...? Was haltet ihr von dieser kleinen spontan-Tanzeinlage?
Bis Mittwoch!
LadyBrisingr

Supposed to be a LadyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt