Kapitel 10

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Ausnahmsweise war ich nicht kurz vor einer ernsthaften Depression, während ich vor dem Französischraum stand, denn heute hatte Kilian bereits auf mich gewartet.

„Bonjour, ma petite amie!", begrüßte er mich und ich tat so, als müsst ich mich übergeben.

„Nicht mehr Französisch als notwendig, bitte!"

„Mais pourquoi non?" Ich schlug ihn auf die Schulter. „AU!", rief er. Ich glaube, er hatte nicht damit gerechnet, dass ich wirklich feste schlagen würde. Seine Augen blitzen. Okay, vielleicht verarschte er mich auch nur und es hatte nicht im Mindesten weh getan. Schade, eigentlich.

Frau Hahn schloss fröhlich französisch vor sich hin schwafelnd den Klassenraum auf. Kilian und ich gingen auf den Platz zu, den ich auch sonst immer hatte. Die Tische standen hufeisenförmig und wir gingen zur Spitze des Hufeisens, die direkt am Fenster lag. Normalerweise saß ich ganz außen, aber diesmal ließ Kilian sich auf diesen Platz fallen, also setzte ich mich auf Maries Platz. Als sie die neue Sitzordnung sah verrutschte das vorsichtige Lächeln in ihrem Gesicht. Ich zog den Stuhl neben mir nach hinten und bot ihn ihr an. Das Lächeln kehrte zwar nur halb zurück, aber immerhin.

Ich muss sagen, von Französisch bekam ich in dieser Stunde nicht allzu viel mit. Kilian auch nicht. Marie auch nicht, aber sie hatte nur halb so viel Spaß wie Kilian und ich, denn sie beteiligte sich nicht an unserer Alberei, sondern maß uns mit Blicken, die förmlich „NEHMT EUCH EIN ZIMMER!" oder „IHR SEID VOLL SCHEIßE, WEIL IHR SPAß HABT!" schrien. Nachdem ich versucht hatte, sie mit einzubeziehen und sie nur die Stirn gerunzelt hatte, ließ ich es bleiben und widmete mich ganz Kilian. Wir pikten uns unterm Tisch in die Seiten und Beine, Kilian kitzelte mich am Oberschenkel, bis ich ihn in selbigen kniff und als in den Vokabeln „Jüngste", „herumwühlen" und „versinken" stand, war es mit der von Frau Hahn beschworenen contenance vorbei und wir kicherten haltlos. Jaaaaa, unser Niveau war auf dem Tiefpunkt der Zweideutigkeit angelangt.

Da wir aber zusammen mit Marie (und dem Sprachgenie aus Kunst) die einzigen aus dem 9-köpfigen Kurs waren, die zumindest ein bisschen was von Französisch verstanden, ließ Frau Hahn uns wesentlich mehr durchgehen, als den Quatschtanten, die hinten in der Ecke saßen. Vielleicht bemerkte sie uns auch einfach nicht, wie auch immer, mir war es ganz lieb so.

Bis ich vorlesen musste. Ich hasste es, vorlesen zu müssen. Ich verstand zwar das meiste und in der Theorie beherrschte ich auch die Aussprache. In der Praxis verhaspelte ich mich aber bei jedem fünften Wort und ärgerte mich dann über mich selbst, was nur dazu führte, dass ich mich noch mehr verhaspelte.

Heute schien es aber einigermaßen zu funktionieren, was mich überraschte. Aber Kilian wäre nicht Kilian, wenn er kein Arschloch wäre. Im vierten Satz (ich war tatsächlich flüssig bis dorthin gelangt) pikte er mich in die Seite und ich erschrak mich so sehr, dass ich kurz ins Stocken kam. Danach gab es für Kilian kein Halten mehr. Ohne Unterlass pikte, kitzelte oder kniff er mich. Ich unterdrückte mühsam ein Lachen und nach drei weiteren Zeilen war der Abschnitt endlich zu Ende und ich erlöst.

„Das gibt Rache!", flüsterte ich ihm zu. Er grinste nur. Aber dann musste er vorlesen.

Meine Kitzelversuche blieben leider erfolglos, doch dann beschloss ich unfair zu werden. Wir hatten früher nie Berührungsängste gehabt. Wir hatten Kissenschlachten veranstaltet, bei denen ich irgendwann rittlings auf ihm saß. Warum sollte ich jetzt damit anfangen? Langsam legte ich meine Hand auf seinen Bauch. Kilian las flüssig weiter. Ich packte ein Stück Haut. Ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, dass auch das deutliche Zeigen meiner Absicht ihn nicht zu stören schien. Nun gut. Ich kniff zu. Er verhaspelte sich kurz, doch fing sich sofort wieder. Ich ließ los, packte weniger Haut und kniff wieder zu. Er stolperte über die Worte und seine Hand schnappte mein Handgelenk. Jetzt wieder sicherer, las er weiter. Ich biss mir fest auf die Lippe, um nicht laut los zu lachen.

Als Frau Hahn auch ihn endlich erlöste, schnellte sein Kopf zu mir.

„Was zur Hölle?" Ich lachte.

„Du hast dich nicht kitzeln lassen! Ich musste mich doch rächen." Unschuldig blinzelte ich ihn an. Ich sah ihm an, dass er auch kurz davor stand, loszulachen.

„Du Luder, du!", raunte er mit verstellter, fast schon verzerrt tief klingender Stimme. Wieder biss ich mir auf die Lippe.

Um zehn vor vier klingelte endlich die Schulglocke und Kilian und ich sprangen förmlich von unseren Plätzen.

„Hast du noch Unterricht?", fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. „Hmpf", machte ich. Ich war eine Meisterin der nonverbalen Kommunikation.

„Du etwa?" Ich gab noch ein „hmpf" von mir. Kilian lachte los. Ich starrte ihn böse an.

„Soll ich nun Mitleid mit dir haben?" Ich grummelte. „Oooooh!", machte Kilian und seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Ich schubste ihn und er stolperte einige Stufen hinunter. „HEY!", rief er. Mit einem arroganten „pf!" warf ich mir die Haare über die Schulter. Wären sie fünf Zentimeter kürzer gewesen, hätte ich meine Stufen sofort wieder im Gesicht gehabt, so bildeten sie wahrscheinlich ein perfektes V auf meinem Rücken. Würden sie zumindest, wenn sie sich nicht an den Spitzen ein bisschen kräuseln würden und mein Tornister nicht im Weg wäre. In einem dieser High-School-Filme würden sie jetzt ein perfektes V bilden.

Kilian jedoch schien sich keinerlei Gedanken über V-Schnitte und Locken zu machen denn er kam mir wieder entgegen und schmiss sich mich samt Schultasche über die Schulter.

„Lass mich runter! Du Mistkerl!" Soviel zur nonverbalen Kommunikation. Ich trommelte auf seinem Rücken herum, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. Wann war der Kerl so stark geworden? Vor einem Jahr war er zwar schon 20 Zentimeter größer als ich gewesen, aber definitiv auch so schmal wie ich. Jetzt war fast schon ein Schrank!

„Was hast du jetzt?", fragte er über seine Schulter, auf der ich ja noch immer hing.

„Sport...", sagte ich und seufzte innerlich. Wir hatten gerade Zirkeltraining in Sport und ich hasste Zirkeltraining. Ich war zwar relativ ausdauernd und meine Körperspannung war in 7 Jahren tanzen auf ein beträchtliches Maß gewachsen, aber wenn es um Armmuskulatur ging, war ich ein verlorener Posten. Schade nur, dass in jedem Zirkel Liegestütz, Seil hochklettern oder Klimmzüge enthalten waren. Im letzten war alles drei gewesen.

Kilian schleppte mich noch bis zur Turnhalle und setzte mich unter Gejohle einiger Mitschüler ab.

„Tschüss, Kleine! Viel Spaß noch", er zwinkerte mir zu und ging. „Kilian!", rief ich ihm hinterher. Er drehte sich nochmal um und ich hob den Mittelfinger. Mein bester Freund lachte nur und warf mir eine Kusshand zu.

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Ein bisschen spät, aber noch ist es Mittwoch!
Genießt es!
LadyBrisingr

Supposed to be a LadyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt