Langsam zerknüllte ich das weiße Taschentuch in meinen Händen.
Es war unbenutzt, da ich weder den Drang verspürt hatte, mir die Nase zu schnäuzen, noch die Tränen abzutupfen, welche langsam und einsam meine Wangen hinabgelaufen waren wie Regentropfen an einer Fensterscheibe.
Aus den Augenwinkeln heraus betrachtete ich nachdenklich den Jungen neben mir.
Er war es gewesen, der mir das Taschentuch gegeben hatte.
Seine Haare waren dunkelblond und seine grünen Iriden hatten sich auf die Wand uns gegenüber gerichtet. Er war groß und muskulös gebaut, allerdings kein Wächter, wie mir auf den ersten Blick hin aufgefallen war. Er war ein Domitor, genauso wie ich, wahrscheinlich zwei Jahre älter, also im Abschlussjahrgang.
Seinen Namen kannte ich nicht.
Er hatte sich nicht vorgestellt, als er durch die offen stehende Tür in den Klassenraum getreten war und seine Augen augenblicklich die meinen gefunden hatten. Er hatte schöne Augen. Zwar nicht so ungewöhnliche, wie Cilian, aber dennoch waren sie auffallend.
Ich biss mir auf die Unterlippe, als ich meinen Kopf zurück in den Nacken legte und all das, was bis gerade eben passiert war, wieder Revue passieren ließ.
Ich hatte verloren, wie ein kleines Kind ohne Mutter, gegen die Wand gelehnt im alten Klassensaal gesessen und versucht, die Tränen zurück zu halten, welche in meinen Augen brannten.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich dort gesessen hatte, aber irgendwann war dieser Junge eingetreten, hatte sich neben mich gesetzt und für wenige Minuten genauso wie ich aus dem Fenster hinaus gestarrt. Dann hatte er mir das Taschentuch in die Hand gedrückt und gesagt, ich müsse mit ihm kommen. Zur Schulleitung.
Das war die einzigen Worte, die er bisher an mich verloren hatte. Er hatte mich sogar nicht mal wirklich angesehen, wie als würde man es ihm verbieten.
Er hatte mich vor die Tür des Büros geführt und sich mit mir auf zwei Plastikstühle gesetzt, die sehr wahrscheinlich extra für uns beide im Gang aufgestellt worden waren -bei meinem letzten Besuch vor einem Tag waren sie nämlich noch nicht da gewesen.
Wow. Das war wirklich ein neuer Rekord.
Gestern noch hatte man mich gewarnt, nichts böses zu tun, und jetzt, nahezu vierundzwanzig Stunden später, befand ich mich wieder hier an der selben Stelle, vor dem Büro.
Okay, vielleicht waren es auch fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Stunden später, wer weiß, wie lange ich in dem alten Klassensaal vor mich hingestarrt hatte.
Ich rief mir wieder die Worte der Schulleiter in die Gedanken, dass ich meine Seele nicht beflecken dürfe und dass ich nicht das tun durfte, was man unter Böse verstand.
Hatte ich mit dem Angriff auf Kate meine Seele befleckt? Hatte ich etwas Böses getan?
Meine Finger begannen langsam das Taschentuch wieder zu entfalten und es zu zerreißen. Stück für Stück. Kleine Fetzen schwebten auf den Teppichboden herab wie Schneeflocken.
Der Junge neben mir schien das zu bemerken. Er räusperte sich, wandte seinen Blick allerdings nicht von der Wand ab.
Seine Hände hatte er im Schoß gefaltet, wie als würde er beten. Vielleicht tat er es auch. Vielleicht war auch ihm die Schulleitung nicht ganz geheuer.
Wieder räusperte er sich. Wahrscheinlich, da ich nicht damit aufhörte, das Taschentuch zu zerfetzen.
Ich musste ihm vorkommen wie eine Geisteskranke!

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Fury - Dunkles Herz
Fantasía"Du weißt nicht, zu was du Fähig bist, Carol Fury. Niemand weiß das. Und genau deswegen bist du eine Gefahr." ~~~ Nach dem Tod ihres Vaters beginnt Carol Fury ein neues Leben im Haus der Hekate, ein Internat für Domitoren, die Erben der Magie. Dort...