Kapitel 1

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Begin: Oktober 2016
End: Oktober 2016
Processed: 21.06./26.06.17
Words: 2220
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Ich weiß nicht, ob - wenn ich in dieses Flugzeug steige - ich am Ende einen Haufen von Scherben zurücklasse oder ihn mit mir herumschleppe und jeden, der mir begegnen wird, damit schneide und verbluten lasse. Es gibt Menschen, die man als normal ansieht, doch wenn man sie näher kennenlernt, stellt man fest, dass sie anders sind. Jeder, der mit ihnen in Berührung kommt, wird am Ende verändert sein und ob diese Veränderung positiv oder negativ ist, weiß ich nicht. Ich tendiere zu Letzterem.

Jedenfalls bin ich einer dieser Menschen und auch wenn mich mein ziemlich normales Aussehen nicht auffallen lässt, bemerkt man spätestens an meiner viel zu schlanken Figur, dass etwas dahintersteckt. Dann folgen die matten, grünen Augen, die schon lange keinen Glanz mehr in sich tragen und nicht zu vergessen, meine Scheu vor jeglichen Menschen. Vor ihren Berührungen, ihren Worten, ihren Blicken, allem. Und doch habe ich das Angebot einer Hilfsorganisation angenommen, werde in wenigen Minuten den Check-In betreten und dann weit weg fliegen. Kostenlos, mit neuem Namen, neuer Identität, einer Sperrung auf alle Artikel, die es über mich im Internet zu finden gibt - wie ein Vogel. Ich bin noch nie geflogen und würde mich Domenik nun fragen, was ich fühle, würde ich wahrscheinlich mit Angst antworten, jedoch ist nur Anna hier. Kein Domenik und eigentlich bin ich wirklich froh darüber. Schließlich bin ich alt genug und brauche keinen Babysitter mehr, so will ich es mir wenigstens einreden, damit das Bevorstehende erträglicher wird, denn wie soll ich in einer fremden Familie, an einem fremden Ort, überleben, wenn ich eigentlich einen Aufpasser brauche? Domenik meint, ich solle das aus einer anderen Sicht betrachten, doch Empathie ist nicht meine Stärke und so fällt es mir weder leicht, mir eine andere Sicht vorzustellen, noch ein Gespräch auf sozialer Ebene zu führen. Wobei sich das doch verbessert hat, wenn ich ehrlich bin.

„Und du bist dir wirklich sicher, dass du das machen willst? Noch können wir den Flug canceln.", wendet die Braunhaarige ein, doch sie erhält nur ein Kopfschütteln von mir. Was soll ich sonst tun, wenn nicht wegfliegen? Diese Chance auf ein ganz neues Leben erhalte ich nicht noch einmal und ein winziger Teil in mir hofft darauf, dass es wirklich ein neues Leben wird. Ansonsten würde ich jeden verletzen, der etwas mit mir zu tun hat und somit würde ich die Familie Scale ein für alle Mal davon abschrecken, fremde, psychisch kranke Personen aufzunehmen und ihnen eine Heimat zu geben.

„Ich will neu anfangen, Anna. Das weißt du." Ich frage mich, wieso ihr der Abschied so schwerfällt. Während sie für mich die erste Kontaktperson seit Jahren war, bin ich für sie lediglich ein Mädchen von vielen, die ihre Eltern verloren hat. Wobei das nicht einmal mein Problem ist, glaube ich. „Und in diesem Leben werde ich keinen Platz mehr haben, oder Lena?" Vielleicht ist es ja meine Krankheit, die es ihr so schwermacht, jedoch habe ich keine Ahnung und wenn ich sie fragen würde, dann würde sie es abstreiten.

„Kanela", korrigiere ich sie mit entschlossener Stimme, wahrscheinlich etwas zu harsch, denn sie schließt kurz die Augen und atmet tief durch, „und nein, das wirst du nicht. Du wirst immer in meinem Herzen bleiben, Anna und eines Tages werde ich dich anrufen." Sie nickt und greift nach meiner Hand und streicht über meine Schulter. Widerwillig lasse ich ihre Berührungen zu, da ich weiß, dass sie das braucht.

„Versprochen?", fragt sie nach und sieht mir in die Augen, wohingegen ich versuche den ihren auszuweichen. Jetzt in ihre braunen Augen zu blicken, die mit Trauer getränkt sind, würde mich letztendlich doch noch zu Boden zwängen und mich ausknocken. Einmal will ich es schaffen, etwas durchzuziehen, ohne einen Rückzieher zu machen. „Versprochen", erwidere ich, ungelogen. Ich werde mich melden, wenn ich alles im Griff habe. Nicht früher, nicht später. Dann, wenn ich dazu bereit bin. Doch ob das jemals passiert? Keine Ahnung.

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