Kapitel 34

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Die kleinen Steinchen im Sand scheuern an meinen Füßen, die untergehende Sonne brennt mir im Nacken, dort, wo er mich berührt hat.

Ich habe das Gefühl, in zwei Hälften zerrissen zu werden, die eine will umkehren, die andere verpasst mir Schläge auf meinem gesamten Körper. Er ruft mir hinterher, seine Stimme klingt so verletzt und enttäuscht und der einzige Grund dafür bin ich. Wäre ich nicht, dann hätte er jetzt Spaß mit irgendeinem Mädchen, er wäre glücklich mit ihr – und ich habe ihn verletzt.

Weil ich keine Schmerzen mehr ertragen kann.
Weil ich egoistisch bin.
Weil ich ihn nicht verdient habe.

Es wäre auch zu schön gewesen, wenn ich mich auf ihn einlassen könnte, wenn ich ihn glücklich machen könnte. Doch das kann ich nicht, ich ziehe ihn mit mir in den Abgrund, denn dort muss er hin, bevor er mir wieder hinauf helfen kann – und das will ich ihm nicht zumuten. Das kann ich ihm nicht zumuten. Das will ich nicht von ihm verlangen.

Ich hätte ihn nicht küssen sollen.

Ich hätte gleich gehen sollen, denn jetzt bin ich noch abhängiger von ihm. Jetzt weiß ich, was ich haben könnte, was ich nicht haben darf. Egal, was Sam sagt. Egal, was Luke sagt. Ich darf das nicht tun. Ich hätte es nie tun dürfen.

Was habe ich nur getan? Ich presse meine Lippen aufeinander. Lippen, die Lukes berührt haben.

Meine Füße bewegen sich immer schneller und ich klettere einfach über das Gartentor, weil ich nicht anhalten will, um es zu öffnen. Meine Hände zittern und mein Körper prickelt und mein Herz schlägt wie wild, wegen Lukes Berührung, unserem Kuss, unserer Zweisamkeit, unserer Verbundenheit.

Ich bleibe unvermittelt stehen, als ich Clint bemerke, der an einer Zigarette zieht und sie dann im Aschenbecher ausdrückt, sobald er mich sieht. „Da bist du ja“, ruft er erfreut und lächelt, scheint gar nicht zu bemerken, wie aufgewühlt ich bin. Wie sehr ich gerade einfach nur weg sein und weinen und laufen und schreien und tot sein und Luke küssen möchte.

„Dann können wir ja essen, ich sage Grace Bescheid, dann kannst du dir etwas anderes anziehen.“ Ich nicke und husche an ihm vorbei ins Haus und in mein Zimmer, frustriert atme ich aus und blinzle die Tränen weg, die in meine Augen treten.

Wieso soll ich mich umziehen? Sehe ich in diesen Kleidern zu einfach, zu abgeranzt, zu hässlich aus?

Es ist egal, ich ziehe mich um, zucke zusammen, als ich einen frustrierten Schrei vernehme, der aus dem Nachbarhaus kommt – und definitiv nicht zu Sam gehört. Darauf ein Scheppern.

Oh, Luke. Ich fange an zu weinen, höre sofort wieder auf als ich erkenne, dass ich selbst Schuld bin. Dass ich kein Recht dazu habe. Ich presse meine Augen zusammen, mache sie sofort wieder auf als mir die Gefühle in den Kopf schießen. Ich zwinge mich ruhig zu bleiben. Ich habe das Richtige getan – wieso fühlt es sich so falsch an?

Ich habe keinen Hunger mehr. Ich hatte nie Hunger. Und doch gehe ich die Treppe hinunter und setze ein Lächeln auf, damit sich Grace keine Sorgen macht. Damit ich das Essen nicht versaue. Damit ich die Familie nicht auch ruiniere.

Die anderen sitzen bereits und sehen mich abwartend an, weshalb ich mich auf meinen Platz neben Aaron und gegenüber von Grace setze. Kein Wort tritt über meine Lippen – ich würde weinen. Ich will weinen. Einfach nur weinen. Aber ich bin selbst schuld. Ich darf nicht weinen.

„War es schön mit Luke am Strand?“, fragt Grace, wahrscheinlich, um die Stille am Tisch zu beenden. Bei seinem Namen, durchzieht mich ein tiefer Schmerz und ich verziehe mein Gesicht. Ich nicke nur, stochere im Essen herum, bis ich mich dazu überwinden kann ein Stück Kartoffel zu essen. Sie lächelt erfreut und sieht zu ihrem Mann.

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