Kapitel 11

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Schrilles Piepen neben meinem Ohr reißt mich aus meinem Tiefschlaf. Orientierungslos sehe ich mich um, brauche ein paar Sekunden, um zu realisieren, wo ich mich befinde und was dort so laut Piepst. Mein Wecker. Protestierende Laute kommen von Lukes Zimmerseite – seine Zimmerseite, wie das klingt…als würde sie ihm gehören – weswegen ich schnell nach meinem Handy greife und den Wecker ausstelle. Erst jetzt bemerke ich, dass ich auf dem harten Boden liege. „Endlich“, brummt er und zieht sich die Decke über den Kopf. Während ich aufstehe, richtet er sich kurz auf und sieht auf seine Uhr, dann zu mir. „Schlaf ruhig weiter, ich mache dich wach sobald ich fertig bin“, meine ich und er kneift misstrauisch die Augen zusammen. „Wirklich, versprochen.“ Er nickt, legt sich wieder hin und dreht sich um. Ich bin erstaunlich wach. Es wundert mich, dass ich heute Nacht gut schlafen konnte.

Als ich wieder aus dem Bad komme, ist Luke schon wieder eingeschlafen. Seine gleichmäßigen Atemzüge sind beruhigend, auf eine komische Art und Weise. Ich frage mich immer noch, wieso er gestern so ruhig war. Ich habe seinen Freund geschlagen. Scheiße. Wieso muss ich gerade jetzt noch mal daran denken? Ich laufe zum Bett und sehe auf die schlafende Gestalt herab, bevor ich mich zu ihm herunterbeuge. Zuerst mache ich gar nichts, außer ihn betrachten. Ich bin so komisch. Wieso betrachte ich ihn? Leise räuspere ich mich –
meinetwegen, nicht seinetwegen.

„Luke?“, frage ich, erhalte keine Antwort. Logischerweise, er schläft. Ich habe noch nie eine Person geweckt. Wie geht das? Mit lauterer Stimme rufe ich erneut seinen Namen, jedoch regt er sich immer noch nicht. Unschlüssig stehe ich da, überlege was ich nun machen soll, bevor ich ihn an der Schulter packe und durchrüttle. Erschrocken reißt er seine Augen auf und greift reflexartig nach meinem Arm. Ich bin zu langsam, um rechtzeitig zu reagieren und so stehen, liegen wir da. Ich, über ihn gebeugt, und er, mich kampfbereit anblickend.

„Man, Kanela. Erschreck mich doch nicht so“, keucht er und lässt mein Handgelenk los, ohne dass ich ihn darum bitten muss. Überrascht sehe ich auf meinen Arm und dann wieder zu ihm. Wieso ist er so nett. Gehört das zum Plan? Ich gehe einen Schritt zurück, drehe mich um und greife nach meiner Schultasche, die ich vorhin noch gepackt habe.

„Das Bad ist frei, du kannst dich jetzt fertig machen. Ich geh dann mal“, nuschele ich, verwundert über diese verzwickte Situation. Als ich mich erneut Richtung Tür umdrehe, kann ich im Augenwinkel sehen, dass er halbnackt vor mir steht. Neben mir. Irgendwie da, aber in meinem Blickwinkel. Augenblicklich werde ich rot. Wieso? Wieso werde ich rot? Hilfe, ist das peinlich. „Also, tschüss.“ Er hebt nur eine Augenbraue, wahrscheinlich versteht er meine Reaktion nicht. Ich verstehe sie auch nicht. Mehr bekomme ich nicht mehr mit, da ich bereits aus der Tür nach draußen verschwunden bin.

Auf dem Weg in die Kantine, die ich hoffentlich finde in dem ich der Vielzahl der Schüler hinterherlaufe, mustere ich die verschiedenen Menschen eingehend, aber unauffällig. Schon immer beobachte ich die Menschen in meiner Umgebung und könnte stundenlang nichts anderes tun, als anderen dabei zuzusehen wie sie mit anderen umgehen. Bei was sie lachen oder wie sie aussehen, wenn sie gestresst sind. Wie sie auf verschiedene Reaktionen, Gesichter, Stimmlagen anderer reagieren und wie sich dadurch ihre eigenen Reaktionen, Gesichter, Stimmlagen verändern. Dabei lerne ich nie über die Persönlichkeit anderer aus, muss ihnen niemals nahe kommen und kann ihre Welten in meinem Kopf kreieren wie ich sie haben möchte. Das soll man nicht, ich weiß. Ich würde das auch nicht von mir wollen, nicht nur, weil dann jeder falsch liegen würde, wenn sie sich ein Bild von mir würden machen wollen. Aber wenn ich die Menschen nicht näher kennen lerne, dann ist es ein guter Zeitvertreib.

Dieses Mädchen hat einen Hamster, dieser Junge hat eine Vorliebe für Schachbrettfiguren und die Frau hat einen geheimen Fable für Punkkleider. Dieses Mädchen hat viel Stress, dieser Junge ist zu ehrgeizig und die Frau dort links hat Streit mit ihrer Ehefrau. Weil sie Kinder will und ihre Frau nicht. Und der Mann rechts ist einsam und das Mädchen neben mir ist glücklich und der Junge direkt hinter mir verliebt. Und die hat Angst und der hat nicht geschlafen und der vermisst seine Familie und die will nicht mehr hier sein. Und dort bin ich, in der Menge von all den Menschen und gehe unter, als wäre ich nicht existent. Ich bin in der Masse und werde nicht gesehen, weil niemand mehr sieht, sondern jeder nur spricht und niemand mehr sagt, sondern jeder nur blind durch die Gegend läuft. Oder war das schon immer so? Ich bin nicht gut darin auf Gefühle anderer einzugehen, dennoch sehe ich den Schmerz in den Gesichtern anderer und wäre ich nicht selbst eines dieser Gesichter, würde ich versuchen zu helfen. Doch ich gehöre dazu. Gehöre zu den Gesichtern voller Schmerz und krampfhaftem Lächeln und zu den Menschen, die jedes Körnchen Glück in sich aufsaugen müssen. Ich frage mich, frage mich, frage mich, frage mich. Ja, was frage ich mich?

Splitterseele Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt