Kapitel 12

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Ich wache schreiend und schluchzend und wimmernd auf.

Seit meinem Telefonat am Montag mit Domenik hatte ich keine Alpträume mehr. Jetzt schon. Welcher Tag ist heute? Mein Rücken tut weh. Wie viel Uhr ist es? Ich brauche Luft. 07:00 Uhr, Freitag. Ich blute. Oder doch nicht?

Abrupt höre ich auf, Geräusche von mir zu geben. Ich bin in Lukes und meinem Zimmer. Wo ist Luke? Er ist nicht in seinem Bett - im Bad? Ich höre nichts. Wo zur Hölle ist er? Habe ich im Schlaf geredet und er ist rausgegangen? Ich halte mir die Bettdecke vor den Mund, damit die Laute abgedämpft werden, die aus meinem Mund treten. Jemand steckt den Schlüssel in unser Schloss, dieses Geräusch kenne ich bereits. Wenn dieses Geräusch ertönt, dann schließe ich immer die Augen, da Luke das Zimmer betritt und hoffe, dass er nicht merkt, dass ich wach bin.

Nun springe ich aus dem Bett und hetze ins Bad, donnere die Tür hinter mir in dem Moment zu, in dem die Zimmertür aufgeht. Ich wische über meine Augen, fächle mir Luft zu und atme tief ein. Beruhigen, beruhigen, beruhigen. Jemand klopft an die Tür. Dieser jemand entpuppt sich als Sam als sie meinen Namen ruft. Ich antworte nicht. Was macht sie hier? „Kann ich reinkommen?" Ich antworte schon wieder nicht, lehne mich nur an die Wand, starre an die Wand gegenüber und versuche nicht wieder zu weinen. Mein Körper zittert.

Sam kommt rein - ich habe vergessen abzusperren. Sie mustert mich kurz, dann sieht sie auf das Waschbecken, in den Spiegel. Ich folge ihrem Blick - hasserfüllt. Hasserfüllt auf mich selbst. Ich beiße die Zähne zusammen und wende mich von der Gestalt im Spiegel ab, wende mich von mir selbst ab. Kann mir nicht mehr in die geschwollenen Augen sehen, in die toten Augen, in meine Augen. „Sieh hin." Mein Kopf schnellt hinüber zu Sam, die neben mir steht und mich mit ihren tiefblauen Augen betrachtet. „Was?", frage ich, obwohl ich weiß, was sie will. Nur weiß ich nicht, ob ich das will. Meine Stimme ist kaum hörbar. Sie krächzt wie ein Rabe, ein dunkler, schwarzer Rabe. „Sieh in den Spiegel, Kanela. Sieh die wunderschöne Person an." Sie meint sich. Natürlich meint sie sich.

Verdammt nein, sie meint mich.

Bei dem Adjektiv, welches mich beschreiben soll, rümpfe ich die Nase, sträubt sich alles in meinem Körper. Wunderschön. Wer ist das schon? Ich nicht. Leise seufzt Sam, bevor sie mich sanft nach vorne schiebt. Ihre Berührungen treiben mir Tränen in die Augen. Am liebsten würde ich schreiend davonlaufen. Vor der großen Welle davonlaufen, die mit immer höher werdender Geschwindigkeit auf mich zusteuert. Vor mir davonlaufen. Vor allem davonlaufen.

„Siehst du das?" Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern in meinem Ohr, die mich dazu zwingt in den Spiegel zu sehen. Die Augen ihres Spiegelbildes halten mich gefangen. In einem Gefängnis ohne Mauern, ohne Barrieren, ohne Hindernisse und doch bleibe ich. Ihre Augen sind so schön.

„Siehst du diese grünen Augen?" Ich will nicht hinsehen, doch ich sehe hin, starre in das Grün, welches manche mit Wiese vergleichen würden. Ich starre in das Gift, was aus ihnen sprüht und alles in meiner Umgebung verpestet.

„Siehst du die goldenen Sprenkel in ihnen, Kanela? Siehst du sie?" Ich gebe keine Antwort. Früher habe ich sie einmal gesehen. Früher, als ich noch naiver war als heute. Früher, als ich noch länger als nötig in den Spiegel gesehen habe. Sie schienen so viel schöner als das Gift. Viel zu schön.

„Weißt du, dass sie strahlen und glänzen, wenn du lachst? Sie werden hell und noch bewundernswerter als ohnehin schon", haucht sie. Sie erwähnt die Röte nicht. Das Geschwollene nicht. Ich will, dass sie aufhört. Das sie aufhört mich anzulügen, denn meine Augen leuchten nicht. Sie glänzen nicht. Denn sie sind dunkel und böse und furchteinflößend und - sie soll aufhören zu lügen.

„Eines Tages wirst du mir glauben, Kanela. Ich lüge nicht, egal was du denkst. Ich lüge nicht." Ich presse meine Augen zusammen, kann nicht mehr hinsehen. Ich halte meine Ohren zu, kann nicht mehr zuhören. Mein gesamter Körper zittert und die Flut, die Flut kommt immer näher. Ich taumele nach hinten bis ich erneut an die Wand stoße und lege meinen Kopf in den Nacken. Zu viel. Alles ist zu viel - ich habe echt Probleme. Ich bin viel zu schwach und erbärmlich und krank. Wieso bin ich überhaupt hierhergekommen? Wieso lebe ich überhaupt noch? „Scheiße!" Ich muss aufhören. Aufhören. Aufhören. Aufhören zu lügen. Mein Leben ist eine Lüge, ich bin eine Lüge, eine reine Lüge, denn ich heiße nicht Kanela.

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