Kapitel 29

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„Kanela, komm doch hier her und..." -
„Bist du nicht die, die bei..." -
„Kann mal jemand die..." -
„...im Zimmer schläft?"
„Nelli, du bist ja auch da, das hätte ich..." -
„Hey! Dreh die Musik lauter!"
„...wie findest du es bis jetzt?"
„Sag mal, hörst du schlecht, du sollst die Musik lauter machen."

Zu viele Stimmen in zu viel durcheinander bei zu vielen Menschen in einem zu kleinen Raum. Zu viel Englisch bei zu viel fremd bei zu viel Nähe.

Ein Junge schiebt mich grob an der Schulter zur Seite, ich springe zurück, stoße mit meinem Bein gegen einen Tisch. Klirrend fällt etwas zu Boden. Die ganzen Stimmen verwirren mich und jeder will etwas anderes von mir, sie lassen sich nicht gegenseitig aussprechen, ich weiß nicht wohin ich sehen soll.

„Mensch, du bist ja völlig verrückt." Hände, unbekannte Hände, auf meinem Körper, auf meiner Haut und ich wimmere leise auf. Niemand hört es, wie auch, die Musik ist so laut, zu laut. Ich halte mir die Ohren zu. Ich will hier weg. Ich hätte gar nicht erst kommen dürfen. Als ich das Haus betreten habe, habe ich Luke gesehen, doch dann musste er schnell weg und ich habe mich hier in die Ecke gestellt, starre seit zwei Stunden auf die Uhr und bin nur noch hier, weil ich Luke nicht enttäuschen will. Weil ich mich nicht enttäuschen will. Wo sind denn alle?

Aaron stellt sich vor mich, ich lasse meine Hände fallen. „Nelli, alles in Ordnung?"

NEIN, VERDAMMT. SEHE ICH SO AUS, ALS WÄRE ALLES IN ORDNUNG?

Leute drängen mich zur Seite, als wäre ich nicht da und berühren mich an jeder erdenklichen Stelle meines Körpers und ich bekomme keine Luft, weil es hier so stickig ist und ich will hier raus. Wo ist Sam? Wo ist Luke? Aaron hilft mir nicht. Er hilft mir nicht. Er kann mir nicht helfen. Er hat keine Ahnung.

Mein Körper erzittert, als eine Hand auf meiner Schulter ruhen bleibt, mich durchrüttelt. Ich zucke so extrem zusammen, dass die Hand von meinen Schultern rutscht. „Wer bist du?", frage ich den Jungen, den Mann neben Aaron, der mich angefasst hat, mich mit besorgtem Blick mustert.

„Alles in Ordnung?", fragt er anstatt mir zu antworten. Ich greife an meinen eigenen Arm, um einen Halt zu haben, spüre meinen rasenden Herzschlag, höre das Pochen in meinen Ohren. Wie soll ich diesen Leuten nur erklären, wie sehr mich das alles in Panik versetzt? Wie sehr ich es hasse? Wie kann ich Luke nur sagen, dass ich immer noch im Dunklen sitze, obwohl es mir besser geht? Wie kann ich von allen hier verlangen, mir zu helfen? Bei dieser Scheiße mitzumachen?

„Hey, Bunny. Da bist du ja." Seine Stimme – meine Erlösung. Mir ist es egal, dass er mich vor allen Leuten Bunny genannt hat. So egal. Ich atme erleichtert aus, mein Herzschlag verlangsamt sich, meine Panik verschwindet. Als er neben Aaron und seinem Freund stehen bleibt, mustert auch er mich besorgt. Es ist mir peinlich, dass mich jeder anstarrt. Es ist mir peinlich, dass mich jeder anstarrt, weil ich aussehe, wie eine Verrückte. Es ist mir peinlich, dass mich jeder anstarrt, weil ich mich benehme, wie ein, wie eine, wie – keine Ahnung.

Es gibt mir das Gefühl, dass ich tatsächlich verrückt bin. Ich fühle mich wie bei Anton, bei dem alten Mann. Ich fühle mich wie ein Gemälde, welches so schrecklich ist, dass jeder stehen bleiben muss, um es zu betrachten, zu analysieren, zu hinterfragen, zu erforschen. Fühle mich wie ein Objekt.

Es scheint, als würde Luke mein Unbehagen bemerken, denn er legt betont lässig den Arm um meine Schulter, zieht mich an sich und blickt in die Augen all der fremden Menschen. Er weiß genau, was für eine Wirkung er auf mich hat. Natürlich weiß er es. Er muss es wissen.

„Wusstet ihr, dass sie boxen kann?", wendet er sich an die Jugendlichen um uns herum. Nein, wissen sie nicht. Woher denn auch? Aber es lenkt sie ab.

Splitterseele Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt