Part 1: London

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Kapitel 1

„Amelia Andersson", ertönt es durch die Lautsprecher.
Ich trete mit einem falschen Lächeln vor und verbeuge mich vor der applaudierenden Menge.
Die meisten Blicke sind gelangweilt, doch einige Zuschauer lächeln selig vor sich hin, immernoch berauscht von den Übungen, die ich und andere Turner vor einigen Minuten vorgeführt haben.
Meine Hände sind noch voller  Magnesium, weil ich noch keine Zeit hatte sie mir zu waschen, und sobald ich wieder an meinem Platz stehe, klopfe ich sie mir unauffällig an meinem schwarzen Trikot ab. Am Liebsten würde ich mir das verschwitze, enganliegende Stück Stoff vom Leib reißen und in eine Dusche springen, aber ich muss noch warten, bis die Zirkusvorstellung endgültig vorbei ist.
Bei jedem einzelnen Namen klatsche ich brav mit und bemühe mich, mein gezwungenes Lächeln aufrecht zu erhalten.
Sobald der letzte Satz gesprochen wird, seufze ich erleichtert auf und folge den anderen Darstellern hinter die Bühne.
„Ihr wart toll, Mädels!"quietscht meine Trainerin Jessica, sobald die Zuschauer nicht mehr zu sehen sind und strahlt jede einzelne unserer Turngruppe an.
„Nichts anderes habe ich erwartet.", fügt sie stolz hinzu und wirft sich glücklich lächelnd ihre blonden Haare über die Schulter, als sie sich  umdreht und wir ihr zu den Duschen folgen.
Viele verdrehen die Augen oder verkneifen sich ein Kichern, und
auch ich werfe meiner besten Freundin Hazel einen vielsagenden Blick zu.
Ja...Mal davon abgesehen, dass zwei beinahe gestürzt sind, daraufhin die Hälfte der Gruppe gelacht hat und deshalb eine ganze Übung ausgelassen hat, waren wir ganz in Ordnung.
Hazel zieht mich grinsend an allen vorbei, um noch eine gute Dusche zu bekommen und setzt dabei wie immer ihre Ellenbogen ein.
Einige schauen uns genervt an, doch die meisten sind zu sehr in einem Gespräch vertieft, um uns überhaupt zu bemerken.
Ich entwirre noch im Lauf meine roten Haare aus dem Haargummi und stürze dann auf meinen Spind zu, um mein Handtuch und Wechselsachen rauszuholen und in meine standard Dusche neben Hazel zu flitzen, die mal wieder schneller war als ich.
Wir haben jede Kabine ausprobiert und wissen ganz genau, welche warmes Wasser beinhaltet und welche nicht.
Sobald der harte Strahl auf meinen Rücken trifft, entspanne ich mich.
Einige Mädchen quatschen laut und es riecht nach ekligem Billigshampoo, doch das ist mir völlig egal.
Ab und zu ist ein Fluchen aus den Kabinen mit kaltem Wasser zu hören.
„Lia?", höre ich aus der Nebendusche.
„Ja?"
„Schieb mal bitte dein Shampoo rüber."
„Hast du deins schon wieder vergessen?!"
„Ich hab's in meinem Spind liegen gelassen. Jetzt mach schon!", kichert Hazel.
Seufzend kicke ich mein gutes Vanilleshampoo zu ihr rüber, darauf bedacht, es nicht zu weit zu schieben.
Zum Glück landet es in Hazels Kabine und sie ruft mir ein: „Danke!" zu.
Ich warte geduldig bis sie mir mein heißgeliebtes Shampoo zurückkickt, doch bevor ich überhaupt die Chance habe es zu stoppen, landet es eine Kabine weiter.
„Hazel!", rufe ich frustriert.
„Sorry!", ruft diese zurück.
Ich seufze, und weil ich keine Ahnung habe, wer in der Kabine duscht, habe ich keine andere Wahl, als meinen Arm unter die Tür zu schieben und herumzutasten, bis ich mein Shampoo wiedergefunden habe.
„Hey! Was soll das?!", protestiert meine Nachbarin, die mein Shampoo anscheinend gar nicht bemerkt hat.
Ich entschuldige mich und richte mich schnell wieder auf.
Meine Güte, war das widerlich.
Ich will nicht wissen, was manche Mädchen in diesen Duschen gemacht haben.
Ich verbanne diese Gedanken aus meinem Kopf und schließe meine Augen.
Morgen ist der 25 Oktober.
Morgen habe ich Geburtstag.
Morgen werde ich sechzehn.
Ich seufze und konzentriere mich wieder auf meine Dusche.
Sobald ich höre, dass Hazel aus ihrer Kabine steigt und meinen Namen ruft, wringe ich meine Haare aus, ziehe mich schnell um, schnappe mir mein Shampoo von der Ablage und folge ihr.
„Da bist du ja endlich."
Hazel lehnt an einer Wand neben einem Spiegel und ich muss mir wegen ihres leicht genervten Tons auf die Lippe beißen, um nicht zu kichern.
Sie ist wohl genauso müde wie ich.
Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass heute Freitag und somit die fünfte Vorführung der Woche ist.
Wie immer ist es so, dass die Adrenalinschübe der Vorstellung erst in den Duschen vollkommen verschwinden, und somit der Erschöpfung Platz machen.
„Tut mir leid, ich musste noch mein Shampoo zurückerobern.", antworte ich vorwurfsvoll und entlocke Hazel somit ein Grinsen.
Ich muss erst ein paar mal mit meinem Handtuch über den Spiegel im Vorraum der Duschen wischen, bis ich mich erkennen kann.
Meine Haare fallen wie immer in unordentlichen Wellen über meine Schultern, meine grünen Augen glänzen müde und meine Haut ist unnatürlich blass.
Ich blicke zu Hazel, dessen blonde Locken noch wirrer sind als sonst, und dessen eisblaue Augen genauso müde aussehen wie meine.
„Und, bist du schon aufgeregt?", fragt Hazel mich.
Ich zucke mit den Schultern.
„Schon irgendwie, aber ich glaube, ich realisiere es erst morgen."
Hazel nickt.
„Naja, als ich sechzehn geworden bin, habe ich es nicht mal am Tag selbst realisiert.", sagt sie lachend, während wir aus dem großen Gebäude gehen.
Ich grinse und blicke mich suchend nach meinen Eltern um.
„Fährst du mit mir?", frage ich Hazel.
„Wenn ich darf?"
„Klar!", antworte ich und ziehe sie zum knallgelben Auto.
„Hey!", rufe ich meinen Eltern im Auto zu.
„Lia! Du warst toll!", meint meine Mutter mit einem breiten Lächeln.
Ich lache. „Danke. Können wir Hazel mitnehmen?"
„Natürlich!", antwortet mein Vater und ich nicke meiner Freundin zu.
„Hat's denn Spaß gemacht?", fragt meine Mutter, während sie den Motor startet und Hazel sich ins Auto hievt.
Ich nicke.
„Danke für die Mitfahrgelegenheit!", ruft Hazel.
„Kein Problem!", antwortet meine Mutter fröhlich.
Ich erzähle meinen Eltern Details von der Zirkusaufführung und Hazel unterbricht mich die ganze Zeit, um Einzelheiten hinzuzufügen.
„Viel Spaß morgen, Lia! Ich schreibe dir auf jeden Fall.", sagt sie, als wir bei ihr zuhause angekommen sind.
Ich nicke.
„Danke. Bis Montag!"
Hazel winkt noch und verschwindet dann im Haus.
Ich lehne mich an den Autositz und entspanne mich.
„Lia?", ruft mein Vater nach einer Weile zaghaft.
Ich murmele ein: „Hm?" als Bestätigung, dass ich noch wach bin.
„Wir sind da."
Ich stöhne und versuche schlaftrunken meine Tür zu öffnen.
Meine Mutter lacht leise, als ich aus dem Auto stolpere und dabei fast hinfalle.
Müde reibe ich mir über die Augen, wobei ich merke, dass ich mal wieder vergessen habe, mir den letzten Rest meines Augen Make-ups zu entfernen. Bei den Aufführungen übertreiben die Kosmetikhilfen immer maßlos.
Seufzend schleppe ich mich unsere Wendeltreppe hoch und schlürfe ins Bad, um meine Zähne zu putzen und mich abzuschminken.
Ich kämme mir nochmal grob durch die Haare und schlüpfe in ein übergroßes T-Shirt.
Als ich dann endlich in meinem Bett liege, gähne ich und schließe seufzend meine Augen.
Irgendwann, kaum hörbar, merke ich, dass jemand an meiner wie immer angelehnten Tür stehen bleibt.
Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Uhr und dann auf den Umriss meiner Mutter.
„Alles Gute zum Geburtstag, Lia.", murmelt sie.

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