Kapitel 21

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Heute ist Dienstag, der 27 November.
Erics Fehlen hat sich wie eine schwere, unsichtbare, untragbare Last über uns gelegt.
Wir laufen schnell, keiner möchte noch länger hier bleiben.
Wir alle haben Hunger und sind todmüde.
Wir bilden alle eine Kette, sodass niemand mehr verschwinden kann.
Nach drei Tagen kommt Faziras Schloss in Sicht.
Es ist aus Eis, mit hohen Türmen und einer riesigen Tür als Eingang.
Wäre es nicht so still und unheimlich, würde es praktisch dazu einladen, es zu betreten.
Keine Wachen, genau wie bei Arton.
Neben mir läuft Hailey.
„Wie heißt eigentlich dein Vater?", frage ich sie leise.
„Kargus.", murmelt sie abwesend.
Sowohl sie als auch Shane, welcher etwas weiter rechts neben Edmon läuft, scheinen sich hier genauso unwohl zu fühlen wie ich.
Plötzlich baut sich aus dem Nichts eine Wand auf und trennt May, Hailey und mich vom Rest.
Unsere Überraschungsschreie sind genauso laut wie die der anderen, doch dann verstummt jedes Geräusch, das von ihnen kommt.
Wir sind vollkommen von ihnen abgeschlossen.
„Und jetzt?", frage ich ratlos.
„Lasst uns weiterlaufen und schauen, ob wir irgendwie zurück zu den anderen kommen.", schlägt May vor.
Ich nicke.
Wir laufen immer geradeaus, obwohl es einige Möglichkeiten gibt, bei denen wir abbiegen könnten.
„Waren wir nicht eben schon hier?", fragt Hailey.
„Keine Ahnung, hier sieht alles genau gleich aus.", findet May.
„Was wenn-"
Ich werde durch einen Eisbrocken unterbrochen, der von der Decke fällt.
Schon das ist schockierend, doch das, was hinter dem Eisbrocken erschienen ist, lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.
Die Frau hat so helle, definierte Locken, das diese fast weiß aussehen.
Außerdem reichen sie ihr den ganzen Rücken runter.
Ihr Gesicht ist leichenblass, und ihre Augen eisig blau.
Ihre Augenbrauen zeichnen sich auf ihrem Gesicht ab wie Sand auf Papier.
Ihr Gesicht ist schmal, die Nase klein und die blassen Lippen kaum zu sehen, weil sie sie fest aufeinander presst.
Sie trägt ein weißes Kleid, dass ihre helle Haut noch mehr hervorhebt.
Wie kann diese Gestalt mit Morton, Arton, Hailey und Shane verwandt sein?
Sie hat etwas von einer Toten.
Hailey scheint sie zu erkennen, weshalb sich meine Vermutung, dass vor uns Fazira steht, bestätigt.
In dem Moment verengt diese ihre Augen zu kleinen Schlitzen und breitet ihre Arme aus.
Sie spreizt die Finger, zeigt dann auf uns drei und schleudert uns eine riesige Welle entgegen.
Wir können uns in letzter Sekunde in einen kleinen Seitengang retten.
Das Geräusch von Faziras Absätzen auf dem Eis hallt von den Wänden.
„Wir müssen hier weg.", entscheidet May mit zitternder Stimme.
Ich nicke panisch.
Die Frage ist nur, wohin.
Faziras Schloss ähnelt einem Labyrinth.
Wir rennen einfach los, weg von der wutentbrannten Fazira.
Als wir um eine Ecke schlittern, stoßen wir fast mit Felis zusammen.
Erleichtert, die anderen wiedergefunden zu haben, vergessen wir fast, ihnen von Fazira zu erzählen.
Ihr Absätze sind schon wieder zu hören.
Gerade als wir in die andere Richtung wollen, stellt sich uns jemand in den Weg.
Die Person trägt einen langen Mantel und hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
„Alle auf einem Flecken. Ihr macht es uns so einfach.", ertönt eine tiefe Stimme.
Als die Person hochblickt, schauen uns stechend blaue Augen entgegen.
Das muss wohl Kargus sein.
Die Kapuze wirft dunkle Schatten auf seine Haut, nur seine Augen sind zu erkennen.
„Lasst uns das ohne Kampf regeln.", bittet Etalon.
„Es gibt nichts zu regeln.", meint Kargus.
„Ich werde euch nicht helfen.", schaltet sich Fazira ein.
Alle drehen sich ruckartig um.
Ich habe sie gar nicht kommen hören.
Mein Blick wandert nach unten, und ich sehe, dass sie ihre Schuhe ausgezogen hat.
Ihre Füße sind genauso blass und knochig wie ihre Hände.
Hailey und Shane starren ihre Eltern schweigend an.
Faziras Blick wandert auf mich.
„Amelia."
Sie spricht meinen Namen verächtlich aus, fast schon wütend.
Ich hebe mein Kinn.
Sie soll nicht sehen, dass sie mir Angst macht.
„Meandra werdet ihr genauso wenig überreden können wie mich.
Dazu hassen wir uns zu sehr."
„Du hast sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.", erinnert Etalon sie.
„Das brauche ich auch nicht. Ein Mensch wie sie kann sich nicht verändern. Ihre Tochter ist wahrscheinlich ein genauso hoffnungsloser Fall."
Faziras Stimme ist hoch und recht leise.
„Und was ist mit uns?", fragt Hailey verunsichert.
Faziras Lippen verziehen sich zu einem falschen Lächeln.
„Ihr könnt bei mir bleiben.", schlägt sie vor.
Shane schüttelt energisch den Kopf.
„Lieber sterbe ich, als mit so einer Schlange wie dir zusammen zu leben.", zischt er.
Kargus kommt einen Schritt auf ihn zu, doch dann hält Fazira ihn auf.
„Das ist Zeitverschwendung.", spottet sie.
Haileys und Shanes Blicke ändern sich schlagartig.
Beide werden wütend.
„Ihr seid echt das letzte.", faucht Hailey.
„An deinen Überredungskünsten müssen wir noch arbeiten.", meint Fazira.
„Wollt ihr euch vor uns auf die Knie schmeißen? Uns Dinge versprechen, die ihr nicht halten könnt?", fragt Kargus.
„Los, überrascht mich.", fordert Fazira mit einem selbstsicheren Grinsen.
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Meandra ihr kein bisschen ähnelt, und sie sich deshalb nicht ausstehen können.
Ich möchte nach Edmons Hand greifen, weil ich weiß, dass er vorhin hinter mir stand, doch ich fasse nur durch die Luft.
Ein Blick nach hinten bestätigt mir, dass er nicht mehr da ist.
Meine Augen irren umher, auf der Suche nach ihm, und schließlich werde ich fündig.
Ganz langsam schleicht er sich von hinten an Kargus heran.
„Wenn ihr nichts mehr zu sagen habt, könnt ihr uns ja wieder verlassen.", schlägt Fazira vor.
In dem Moment schlingt Edmon seine Arme um Kargus Hals und platziert seine Hände so, dass er ihm innerhalb einiger Sekunden die gesamte Luft abschneiden könnte.
Fazira versteift sich.
„Lass ihn los!", befehlt sie.
Shane und Hailey wittern ihre Chance.
„Lass ihn sterben oder schließ dich uns an. Deine Wahl.", stellt Shane klar.
„Damit kommt ihr nicht durch.", meint Fazira und versucht dabei, so selbstbewusst wie möglich zu klingen.
Ich glaube, jeder hier hat den unsicheren Ton in ihrer Stimme gehört.
„Du hast es so weit kommen lassen.", beschuldigt Hailey sie.
Kargon gibt gurgelnde Laute von sich.
„Greif an oder ruf um Hilfe, und er ist tot.", droht Edmon.
Man sieht ihm die Anstrengung an.
Kein Wunder, angesichts der Tatsache, dass er seit einer ganzen Weile nichts mehr gegessen oder getrunken hat, und gerade versucht, einen erwachsenen Mann festzuhalten.
Kargus keucht.
„Soll ich wie bei einem kleinen Kind bis drei zählen?", spottet Shane.
Faziras Blick ist hasserfüllt.
„Schön.", murmelt sie.
„Wie bitte?", fragt Hailey.
„Lass Kargus los, verdammt! Ich werde euch helfen."
„Schwöre es. Mit Magie.", verlangt Etalon.
„Ich schwöre."
Fazira schnippst und lässt somit eine kleine Pfütze in der Luft entstehen.
Etalon hält seine Hand hinein, und die Pfütze verschwindet.
Was auch immer gerade passiert ist, den Wasserring haben wir wohl auch auf unserer Seite.
Man sieht Hailey und Shane an, dass es sie viel Mühe kostet, nicht verletzt auszusehen.
Fazira hätte wahrscheinlich nicht zugestimmt, hätten die beiden nichts gesagt, aber trotzdem hätten sie das alles vermutlich lieber anders geregelt.
Wenigstens haben wir jetzt auch den Wasserring auf unserer Seite.
Dann fehlt uns nur noch einer.
Vor dem haben wir wohl alle am meisten Angst.
Werde ich Meandra überreden können, oder werden wir so etwas ähnliches wie bei Fazira machen müssen?
Ich hoffe nicht.
Aber was bringt uns Hoffnung auf dieser verdammten Reise?

Voilà, Kapitel 21 :)
Was haltet ihr von Fazira und dem Schwur?
Und generell von der Geschichte bis jetzt?
Was gefällt euch und was nicht?
Rückmeldung und Votes bitte nicht vergessen!
Schaut gerne auch mal bei meiner anderen Story "In
einer Sekunde" vorbei :)
Ich wünsche euch noch einen schönen Tag :)

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