Kapitel 6
Das erste was ich sehe ist der Umriss zweier Gestalten, die mich freundlich lächelnd festhalten, als ich stolpere und beinahe hinfalle.
Direkt hinter mir kommt Atrius aus dem Nichts zum Vorschein, kein einziger Lichtstrahl ist zu sehen, nur eine kleine Luke, die in der Luft schwebt.
„Herzlich Willkommen.", grüßt der erste Wache mit den braunen Augen. Er trägt eine Art Rüstung, die jedoch stark vereinfacht und leichter aussieht.
„Wir haben dem König bescheid gegeben, er müsste gleich hier sein.", sagt der zweite. Auch er trägt diese Art Rüstung, nur ist seine rot, die des anderen jedoch grün.
Langsam bildet sich eine Menschenmenge um uns, wir befinden uns vor einem Tor, dahinter kann man einige Geschäfte erblicken.
Einige Leute zeigen mit dem Finger auf Atrius, andere auf mich, und sie flüstern sich gegenseitig irgendwelche Sachen zu.
Immer mehr Soldaten umrunden uns und die Menge der Menschen vergrößert sich weiter.
Manche von ihnen halten Flaggen in den Händen, diese sind weiß und haben eine große, goldene Sonne auf sich abgebildet.
„Aus dem Weg! Lassen Sie mich durch!", ruft auf einmal eine Männerstimme.
„Weg da!"
Ein recht kleiner Mann mit unordentlichen blonden Haaren und tiefen Augenringen kommt zum Vorschein.
Sobald er Atrius erblickt, bleibt er kurz ungläubig stehen, dann eilt er auf ihn zu und zieht ihn in eine feste Umarmung.
„Ich fasse es nicht. Als ich hörte, du seist anscheinend angekommen, wollte ich es tatsächlich nicht glauben. Aber hier stehst du. Unfassbar."
Auch Atrius scheint unglaublich froh, den Mann wiederzusehen.
„Etalon. Ich muss dir jemanden vorstellen."
„Ich wusste, du würdest sie finden. Hast dir ganz schön viel Zeit gelassen."
Atrius grinst.
„Das ist Lia, Meandras Tochter. Lia, das ist Etalon, ein sehr guter Freund von mir."
„Endlich lerne ich dich kennen. Du siehst deiner Mutter wirklich unheimlich ähnlich."
Er reicht mir die Hand und blickt mich prüfend aus seinen grauen Augen an.
Seine Augenbrauen hängen ihm tief über die Augen, seine Lippen sind trocken und schmal, sein Gesicht recht kantig und an der Stirn hat er einige Falten.
Seine Stimme klingt leicht rauchig und seine Gestalt etwas in sich gekehrt.
„Es freut mich sehr dich endlich kennenzulernen, Amelia."
„Woher kennen Sie-"
„Deine Kette."
Ich blicke ihn erstaunt an.
Anscheinend fällt ihm jedes Detail direkt auf.
„Freut mich auch."
Wir reichen uns die Hände.
„Du bist es wirklich. Deine Augen..."
Ich schlucke und sehe betreten weg. Ich weiß, dass mir noch einige Leute so ungläubig in die Augen schauen würden, doch es war jedes mal aufs neue komisch.
Mittlerweile befindet sich um uns drei eine riesige Horde an Menschen, die von Soldaten eingekreist wurde.
In dem Moment ertönt eine Trompete und zwei Ritter scheuchen die Menge auseinander, um Platz für eine große sonnengelbe Kutsche zu machen.
Die Leute werden still, sie warten darauf, dass die Tür geöffnet wird.
Auch ich schaue interessiert zur Kutsche, mittlerweile wird es immer dunkler, doch die ganze Stadt ist hell beleuchtet.
Die erste Person die aussteigt, ist eine recht junge Frau mit hochgesteckten braunen Haaren, und direkt hinter ihr ein ebenfalls junger Mann mit dunkelblonden, langen Haaren.
Sie lächeln in die Menge, beide mit braunen Augen, und kommen langsam auf uns zu.
„Atrius. Es ist schön dich wiederzusehen.", begrüßt die Frau ihn.
Sie trägt ein langes, recht einfaches, blaues Kleid, und ich schätze sie direkt als die Königin ein.
„Ganz meinerseits, Rina."
Er lächelt und küsste ihre Hand, eine für ihn so untypische Geste, dass ich automatisch wegschaue.
„Ist sie es wirklich?", fragt der Mann.
Atrius nickt.
„Lia, das sind König Harkan und Königin Rina von Selia."
„Freut mich sehr dich kennenzulernen, Lia."
Die Frau hält mir ihre Hand hin.
Unsicher ergreife ich sie und blicke ihr dabei in die rehbraunen Augen.
Ich murmele schnell ein: „Ebenfalls", dann schaue ich betreten weg.
Kontakt mit Erwachsenen war noch nie meine Stärke.
Das Murmeln der Menschenmenge fängt wieder an, während ich die Hand vom Mann schüttele.
„Du bist bestimmt müde.", schlussfolgert Atrius.
Ich nicke.
Irgendwie kam das alles jetzt ein bisschen schnell.
Gerade noch habe ich mich von meinen anscheinend nicht echten Eltern verabschiedet, dann laufe ich durch ein verdammtes Lichtportal, und im nächsten Moment habe ich für das erste mal in meinem Leben Körperkontakt mit königlichen Leuten.
„Komm mit, ich zeige dir dein Zimmer.", entscheidet Etalon und schiebt mich sanft von hinten in Richtung eines großen Gebäudes.
Es sieht aus wie ein Hotel, wie ein sehr teures Hotel.
Viel erkennen kann ich nicht, dafür fehlt das Tageslicht und meine Konzentration, die mit jedem Schritt ein wenig nachlässt.
Meine Tasche trägt Etalon, ich hatte sie komplett vergessen.
Er führt mich eine kleine Treppe hoch und einen langen Flur entlang, bis zu einer verschlossenen Tür, die er mit einem im Schloss steckenden Schlüssel aufschließt.
Er drückt mir diesen in die Hand, wünscht mir noch eine gute Nacht, und lässt mich dann alleine.
Ich stehe mindestens noch zehn Minuten einfach rum, unfähig irgendetwas zu tun.
Meine Gedanken kreisen die ganze Zeit um meine Eltern, Selia und meine Augen.
Weitere zehn brauche ich, um mein riesiges Zimmer zu besichtigen und mich bettfertig zu machen.
Ich schaue absichtlich nicht auf die Uhr, wahrscheinlich ist es noch nicht einmal so spät, doch diese Routine würde mich an London erinnern, und das ist das letzte, was ich momentan gebrauchen kann.
Das Bett riecht fremd, fühlt sich fremd an und sieht fremd aus.
Aber das ist es ja auch.
Alles hier ist fremd, mein ganzes Leben momentan scheint wie von einer mir fremden Person.
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Augenfarbe
Fantasy„Also...Glaubst du wirklich, dass etwas mit dir nicht in Ordnung ist?", fragt sie zaghaft. „Ja. Das tue ich." Manchmal gibt es Momente, in denen sich ganze Leben auf den Kopf stellen. Genau so einen Moment erfährt Lia am eigenen Leib, als ihr sechze...