Meine Mutter hat mir früher immer gesagt, wenn dieser eine Moment kommt, der, der alles auf den Kopf stellt, dann lächle.
Damals schien mir das einfach, fast schon offensichtlich.
Ich habe auf ihn gewartet, geduldig, freute mich darauf.
Doch ich hätte nie gedacht, dass ich es nicht schaffen würde.
Dass ich aufspringen würde, rausrennen und dann tränenzurückhaltend vor meiner Haustür stehen würde.
Und doch war es so.
Meine Mutter öffnete lächelnd die Tür, doch bei meinem Gesichtsausdruck verblasste ihrer und verwandelte sich in einen leicht erschrockenen.
Sie ließ mich direkt rein und ich folgte ihr ins Wohnzimmer.
Jetzt sitze ich zwischen meinen Eltern auf dem Sofa und hole tief Luft.
„Ich weiß es.", sage ich.
„Was meinst du?", fragt mein Vater ahnungslos.
„Alles. Wieso habt ihr mir nie etwas erzählt?"
„Lia, Schätzchen, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du-"
„Wieso habt ihr mir nie gesagt, dass ich adoptiert bin?!", komme ich zum Punkt.
Meine Eltern werden bleich.
„Hör zu, wir...Wir wollten noch warten, es gab für uns keinen Grund, es dir jetzt schon zu erzählen.
Es tut mir wirklich leid Lia, aber wir glauben, dass deine richtigen Eltern tot sind.", erklärt mein Vater.
Ich hätte mir denken müssen, dass sie nichts von meinen wahren Eltern wissen.
Sie kennen die echte Geschichte nicht.
„Warum glaubt ihr das?", frage ich leise.
Meine Mutter seufzt und reibt mir tröstend über den Rücken.
„Als wir damals erfahren haben, dass ich keine Kinder bekommen kann, war das für uns wie ein Schlag ins Gesicht.
Wir wollten unbedingt eins haben, und dann hatte dein Vater die Idee, einem Waisenkind eine Freude zu machen und es zu adoptieren.
Es war dein erster Tag im Heim, und eigentlich hatten wir vor, irgendein Kind auszuwählen, dass sich schon viel länger dort rumschlagen musste, doch ich konnte nicht anders.
Deine roten Haare und dieser interessierte Ausdruck auf deinem Gesicht...Ich musste dich auswählen."
Ich schlucke.
„Aber eine Sache hast du noch von deinen Eltern.
Deine Kette."
Automatisch fasse ich mir um meinen Hals und fahre die Buchstaben mit den Fingern nach. "Amelia" bilden die Buchstaben.
„Habt ihr mich deshalb so genannt?"
Meine Mutter nickt.
„Wir wollten, dass du den selben Namen hast, den du wahrscheinlich bei deiner Geburt bekommen hast."
Ich könnte niemals wirklich sauer auf meine Eltern sein.
Dafür sind sie zu nett.
Mir fällt ein, was Mr. Henterson heute zu mir gesagt hat.
„Es ist noch recht früh, meinst du, du könntest heute Nachmittag deine nötigsten Sachen einpacken?"
Das ist jetzt ungefähr eine Stunde her gewesen.
Mittlerweile ist es 15 Uhr und ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll.
Meine Sachen packen, nach dem Abgang?
Mich verstecken und hoffen, dass ich Mr. Henterson nie wieder über den Weg laufe?
Meinen Eltern alles erzählen?
„Ich brauche Zeit für mich.", erkläre ich meinen Eltern.
Schnell stehe ich auf, ziehe mir Turnschuhe an, schnappe mir mein Handy und meine Kopfhörer und hechte aus der Haustür.
Ich stelle die Musik absichtlich lauter, um die tausend Gedanken in meinem Kopf zu übertönen.
Leider schleichen sich immer wieder einzelne in den Vordergrund und erinnern mich daran, was heute passiert ist.
Dabei möchte ich gar nicht erinnert werden.
Ich will das alles vergessen, aufwachen und merken, dass es nur ein langer Albtraum war.
Ich stelle meine Musik noch ein wenig lauter, was mir einige genervte Blicke von an mir vorbeigehenden Leuten einbringt.
Ich stolpere fast, und für einen kurzen Moment möchte ich mich einfach hinsetzen und weinen.
Ich merke, dass die Maske, die ich angefangen habe mir zu erstellen, für diesen einen Moment verwackelt, und das darf nicht passieren.
Meine Musik läuft weiter, und ich passe meine schnellen Schritte an den dröhnenden Bass an.
Am Ende des Weges erblicke ich ein paar Leute aus meiner Stufe, doch Zoe ist zum Glück nicht dabei.
Sie schauen mich zweifelnd an, und automatisch hebe ich spöttisch meine Augenbrauen, lächele selbstsicher und schiebe meine Schultern nach hinten.
Was ist nur aus dem netten, schüchternen Mädchen geworden, das ich vor dem ganzen Geschehen war?
Aber wenn ich möchte dass sie mir glauben, ich hätte mich vorher zurückgehalten um dann groß rauszukommen, muss ich so sein.
Keiner würde mir glauben, weswegen ich wirklich schlauer geworden bin.
Niemand glaubt das einem netten, schüchternen Mädchen.
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Augenfarbe
Fantasía„Also...Glaubst du wirklich, dass etwas mit dir nicht in Ordnung ist?", fragt sie zaghaft. „Ja. Das tue ich." Manchmal gibt es Momente, in denen sich ganze Leben auf den Kopf stellen. Genau so einen Moment erfährt Lia am eigenen Leib, als ihr sechze...