Kapitel 7

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2. September 2015, 12:06

Am darauf folgenden Tag ging ich dem Neuen so gut ich konnte aus dem Weg. Trotz meiner deutlichen Suche nach Distanz, ließ er nicht locker und versuchte, mit mir ins Gespräch zu kommen.

Ich wusste nicht, was er damit bezwecken wollte. Vielleicht hatte er Mitleid mit mir? Vielleicht wollte er die Gerüchte aus erster Quelle erklärt bekommen, denn jeder erzählte das, was zwischen Brandon und mir geschehen ist, anders, doch niemand erzählte es richtig. Niemand kannte die Wahrheit außer mir.. und Brandon. Es sei denn, er war ebenfalls der Meinung, es sei einvernehmlich gewesen.

Brandons Standpunkt kannte ich nicht. Was er bei dem Gedanken über jene Nacht wirklich fühlte, wusste vielleicht auch nur er selbst. Bisher hatte er nicht versucht, mich zu kontaktieren. Eventuell war es also möglich, dass ihm klar geworden ist, dass es gegen meinen Willen passiert war. Oder Claire hatte ihn unter Druck gesetzt.

Allmählich bekam ich Kopfschmerzen von all den wirren Gedanken, die in meinem Kopf kreisten. Dass ich heute kaum etwas getrunken hatte, machte es im Übrigen auch nicht viel besser. Gegessen hatte ich ebenfalls noch nichts, Hunger hatte ich sowieso keinen.

Also saß ich einfach nur gedankenverloren an einem leeren Tisch in der Cafeteria und hatte den Blick verträumt aus dem Fenster gerichtet.

Dass sich jemand gegenüber von mir auf den freien Stuhl setzte, bemerkte ich sofort, jedoch ignorierte ich es gekonnt. Bis die Stimme jener Person zu mir durchdrang, die mich bereits den ganzen Tag versuchte, abzufangen.

Eigentlich hatte ich ehrlich nicht damit gerechnet, dass er sogar seine Mittagspause damit verschwenden würde, mir hinterherzurennen. Sonst hätte ich mich definitiv nicht wie auf dem Präsentierteller hierher gesetzt, sondern mich auf der Mädchentoilette verschanzt oder so.

,,Du gehst mir offensichtlich aus dem Weg", sagte der Neue.

Adam.

,,Nein", erwiderte ich gespielt überrascht über seine Vermutung. ,,Wie kommst du darauf?" Es war eine rhetorische Frage. Adam und ich wussten beide, wie er darauf kam. Schließlich lag er auch nicht falsch mit der Annahme, dass ich ihm aus dem Weg ging.

,,Ich wusste sofort, dass etwas mit dir nicht stimmt", erklärte Adam mir und sah mich über den Tisch hinweg mit diesem ganz bestimmten Blick an. Er bemitleidete mich dafür, dass sich alle gegen mich verschworen hatten.

Wütend stand ich auf. ,,Ich kann auf dein geheucheltes Mitleid verzichten. Du kennst mich nicht, du kennst die wahre Geschichte nicht!", warf ich ihm vor und blickte in die Runde. Einige Schüler an den Tischen um uns herum hatten sich zu uns umgedreht und lauschten dem Gespräch, welches wir führten. ,,Niemand hier kennt die Wahrheit, niemand hier weiß, dass er.. -" Bevor ich etwas sagte, was ich am Ende nur bereuen würde, hielt ich inne. Ich wollte den Leuten, die uns zuhörten, keinen extra Gesprächsstoff zum Verdrehen von Tatsachen geben.

,,Hannah", sagte Adam und folgte mir aus der Cafeteria. Mittlerweile hatten wir gefühlt alle Aufmerksamkeit auf uns gezogen.

Ganz großes Kino, dachte ich und spürte die Hitze, die mir ins Gesicht stieg.

Das willst du doch, im Mittelpunkt stehen, erwiderte meine innere, masochistische Stimme. Sie sprach vermutlich genau das aus, was auch die anderen über mich dachten.

,,Hannah, warte!", rief Adam quer über den Schulhof, auf den ich gelaufen war. Ich brauchte einfach diese frische Luft, sonst konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

,,Adam, lass mich in Ruhe", bat ich den Neuen, der mich einfach nicht in Ruhe lassen wollte. Durch sein aufdringliches Verhalten fühlte ich mich in die Enge getrieben. Ich fühlte mich dazu getrieben, sprechen zu müssen. Weder konnte, noch wollte ich das.

,,Ich kann verstehen, wie du dich fühlen musst", begann Adam dann, ohne auf meine Bitte, mich in Ruhe zu lassen, zu reagieren.

Schnaubend drehte ich meinen Kopf in eine andere Richtung. Niemand versteht es, Adam..

,,Ich wurde selbst jahrelang gemobbt", fuhr er fort und schob den Ärmel seines Pullovers hoch, sodass ich seinen Arm sehen konnte. ,,Ich dachte damals, dass der Tod mein einziger Ausweg sei" Er drehte seinen Arm, sodass ich nun die Unterseite sehen konnte, wo sich eine große Narbe quer über seine Pulsadern zog. Ich schluckte schwer. ,,Meine arme Mutter, die nichts dafür konnte und mich bedingungslos liebt, fand mich. Sie hatte keine Ahnung, was in mir vorging, denn ich habe es ihr nicht erzählt und wurde mit der Zeit ein Meister des Verbergens"

Seine schmalen Lippen formten sich zu einem leichten Lächeln. Gruselig im Anbetracht der Lage, was er mir gerade erzählte. Doch ich hörte ihm zu. Ich wollte hören, was er zu sagen hatten.

,,Ich wollte eigentlich beide meiner Arme aufschlitzen, aber ich war zu schwach für den zweiten Arm.." Das Lächeln auf seinen Lippen erlischte. ,,Es war Zufall, dass Mom nach Hause kam, denn eigentlich hätte sie bis spät in die Nacht arbeiten müssen. Doch sie hatte sich früher Feierabend genommen, da es ihr nicht gut ging"

,,Das war kein Zufall, sondern Schicksal", erwiderte ich mit einer heiseren Stimme und musste mich räuspern, um den Kloß in meinem Hals zu beseitigen.

,,Vielleicht", stimmte Adam mir zu und schob den Ärmel seines Pullovers wieder herunter. Er nahm einen tiefen Atemzug. ,,Ich hätte mir gewünscht, dass jemand für mich dagewesen wäre. Jemand, mit dem ich reden könnte.. und deshalb biete ich es dir an"

Seine braunen Augen bohrten sich tief in meine. ,,Ich zwinge dich zu nichts und mir ist durchaus bewusst, dass wir uns nicht kennen", merkte er an. ,,Aber solltest du jemanden brauchen.."

,,Danke, Adam", sagte ich.

Das Angebot, dass ich mit ihm über meine Probleme sprechen konnte, war sehr großzügig und trotz der Tatsache, dass ich Adam nicht kannte, gab es mir ein sicheres, stützendes Gefühl. Vielleicht würde ja sogar irgendwann der Tag kommen, an dem ich mich irgendwem anvertrauen wollte.

Vielleicht.

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